Zeitenwende also. Diesen Begriff, den Bundeskanzler Olaf Scholz in Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine verwendet hatte, kürte eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres. 

Besagte Gesellschaft tut dies bereits seit 1977 jedes Jahr. Das jeweilige Wort soll "den sprachlichen Nerv des Jahres" treffen und einen "Beitrag zur Zeitgeschichte" darstellen. 

Zeitenwende: Ein Jahr der Umbrüche

Das ist ihr dieses Jahr sicher gelungen. Die Zeiten ändern sich. Gut, das tun sie ständig. Doch 2022 könnte in zukünftigen Rückblicken als ein Jahr betrachtet werden, in dem mehrere entscheidende Umbrüche stattfanden oder zumindest sichtbar wurden. 

Im russischen Krieg gegen die Ukraine, der genau genommen ohnehin schon seit 2014 schwelt, zeigen sich gleich mehrere Veränderungen überdeutlich. Viele Ideen sind zu Bruch gegangen: Die einer friedlicheren Welt nach dem Ende des Kalten Krieges etwa. Oder die von unbegrenzt verfügbarer, billiger fossiler Energie. Oder, und das betrifft uns als evangelische Christ*innen besonders, die von einem bequemen Pazifismus, der geopolitisches Machtstreben einfach ignoriert. 

Unsanft geweckt

Natürlich waren diese Ideen auch schon vorher auf Sand gebaut. Lange Zeit konnten wir unangenehme Realitäten ausblenden, beziehungsweise auslagern, in andere Länder, die den Preis für unseren Wohlstand bezahlen. Etwa im zentralafrikanischen Kongo, um dessen Ressourcen schon seit der Ermordung des demokratisch gewählten Präsidenten Lumumbas 1961 zahllose Kriege und kriegsähnliche Konflikte toben.

Doch der brutale Schock, der am 24. Februar die deutsche Öffentlichkeit erfasste, rückte diese verdrängten Tatsachen schonungslos in den Blick. Das ist allerdings eine Zeitenwende.

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es für die Ukrainer*innen eine weitaus drastischere und brutalere Zeitenwende war. Für sie geht es ums nackte Überleben, für uns bisher hauptsächlich um steigende Preise. 

Für uns in Deutschland ist diese Zeitenwende unangenehm, weil sie viele liebgewonnene Illusionen zerstört hat. Existenzbedrohend ist sie für die meisten von uns nicht. Es gilt vielmehr, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, Antworten zu finden auf Fragen, die sich schon lange stellten, die jetzt aber drängend werden.

Drängende Fragen

Fragen wie: Wie lässt sich unser Lebensstil, an den wir uns gewöhnt haben, mit der Tatsache zusammenbringen, dass fossile Energie-Ressourcen zum einen begrenzt vorhanden sind, und zum zweiten einen hohen Preis haben (wie gesagt, bis vor kurzem eher für andere als für uns)? 

Wie können wir erreichen, dass in Europa dauerhafter und stabiler Frieden herrscht? Welche Konzepte jenseits von bloßer Abschreckung und Aufrüstung, die dabei offensichtlich nicht erfolgreich waren, gibt es? Wie gehen wir mit nach wie vor vorhandenen Atomwaffen um? 

Und wie bekämpfen wir die weiter voranschreitende soziale Spaltung in Deutschland? Wie verhindern wir, dass immer mehr Menschen über steigende Preise von immer mehr Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen werden? 

Keine einfachen Antworten

Klar sollte uns dabei sein: Einfache Antworten, schnelle Lösungen gibt es nicht. Die Zeitenwende, die gerade stattfindet, wird nicht einfach mit einem Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland irgendwann beendet werden. Der Krieg wird eines Tages – hoffentlich sehr bald – vorbei sein, aber die Fragen werden bleiben. Und wir werden uns mit ihnen beschäftigen müssen, ob es uns passt oder nicht.