Der Blick reicht über eine schier unendliche Fläche von roter schlammiger Erde. Kein Haus, kein Baum - nicht einmal Gestrüpp sind zu sehen. Bagger und Räumfahrzeuge arbeiten sich langsam durch eine meterdicke Wand aus Schlamm. "Wir bleiben so lange hier, bis alle Opfer gefunden sind", verkündet der Oberst der Feuerwehr, Alexandre Gomes, im brasilianischen Fernsehen. Drei Jahre ist das größte Bergbauunglück in der jüngeren Geschichte Brasiliens jetzt her. Am 25. Januar 2019 brach in der Gemeinde Brumadinho im Südosten des Landes der Damm eines Rückhaltebeckens der Eisenerzmine Córrego do Feijão. Die Schlammmassen begruben mehr als 270 Menschen, sechs werden immer noch vermisst.

Nur wenige Monate davor hatten Mitarbeiter der brasilianischen Tochter des TÜV Süd aus München den Damm geprüft und für sicher befunden. Vor dem Landgericht München wird derzeit verhandelt, welche Schuld der Mutterkonzern an dem Unglück trägt. Sechs Angehörige einer bei dem Dammbruch getöteten Ingenieurin haben das Unternehmen auf Schmerzensgeld verklagt. Im September vergangenen Jahres gab es dazu eine mündliche Verhandlung.

Hunderte Millionen Euro an Schadenersatz werden gefordert 

Doch nun wird das Verfahren ausgeweitet, wie das Landgericht dem epd bestätigte. 1.106 weitere Angehörige - Eltern, Ehepartner und Geschwister - sowie Überlebende haben ihrem Anwalt, Jan Eric Spangenberg, zufolge Klage eingereicht. Sie werfen dem TÜV Süd vor, trotz offensichtlicher Sicherheitsbedenken die Stabilität des 85 Meter hohen Damms bescheinigt zu haben - und fordern 440 Millionen Euro Schadenersatz.

Aus internen Mails, die Spangenberg vorliegen, geht hervor, dass Sensoren, mit denen der Wasserdruck des Damms kontrolliert wurde, Alarm schlugen. Die Ingenieure teilten dem Betreiberunternehmen, dem Bergbaukonzern Vale, mit, dass zu viel Wasser im Damm und die Stabilität gefährdet sei. Dennoch stellte der TÜV Süd eine positive Stabilitätserklärung aus, ohne die der Betrieb der Mine hätte eingestellt werden müssen. Es habe Druck auf die lokalen Mitarbeiter des TÜV Süd gegeben, sagt Spangenberg. "Es gab offenbar die Sorge, dass andere Aufträge von Vale wegfallen würden, wenn keine positiven Stabilitätsgutachten ausgestellt würden." Nach einer Besprechung mit einem aus München entsandten Manager sei die Stabilität bescheinigt worden.

Der Verdacht ist grausam 

Für die Kläger ist klar: Das Unglück und damit der Tod ihrer Angehörigen hätte durch ein verantwortungsbewusstes Handeln des TÜV Süd verhindert werden können. Die brasilianische Tochter des TÜV Süd erhielt 2017 von Vale den Auftrag für die Prüfung etlicher Dämme. Auch der 1976 errichtete Unglücksdamm von Brumadinho war darunter. Schon lange stand er bei der Nationalen Bergbauagentur auf der Liste der Dämme mit dem höchsten Risiko. Doch der TÜV Süd wies in der Verhandlung im September jegliche Verantwortung zurück.

Die Hoffnung der Angehörigen und Überlebenden in die deutsche Justiz ist groß. "Wir fordern eine gerechte Entschädigung für all die Zerstörung und das vergossene Blut", sagte Brumadinhos Bürgermeister Alvimar de Melo Barcelos im September in München. Auch Anwalt Spangenberg betont: "Dass brasilianische Opfer einer Umweltkatastrophe vor einem deutschen Gericht ihre Ansprüche geltend machen und sich ein deutscher Konzern so für seine Handlungen in Brasilien verantworten muss, macht diesen Fall zu einem wichtigen Präzedenzfall."

Die brasilianische Justiz ist mit dem Fall überfordert 

In Brasilien laufen Prozesse gegen Vale und den TÜV Süd. Doch die Justiz arbeitet dort langsam. "In vergleichbaren Fällen wie großen Umweltkatastrophen oder Überschwemmungen dauern die Verfahren zum Teil 20 Jahre und auch dann gibt es noch keine rechtskräftige Entscheidung", sagt Spangenberg. Vale ist von der brasilianischen Justiz bereits zu umfassenden Entschädigungszahlungen verpflichtet worden, vorwiegend zur Beseitigung der Umweltschäden. Bei den Hinterbliebenen ist bislang entweder kein oder vergleichbar wenig Geld angekommen.

Die Lebensader von Brumadinho, einer Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern im Bundesstaat Minas Gerais, war die Eisenerzmine. Jetzt ist das Leid allgegenwärtig. Der Fluss Paraopeba, der durch den Ort fließt und einst klares Wasser führte, ist verseucht. Trinkwasser ist knapp und muss in angrenzende Gemeinden mit dem Tankwagen geliefert werden. Kleinbauern können nichts mehr anbauen, Fischer sind ohne Erwerb. Auch für die Zerstörung der Umwelt soll vor dem Landgericht München um Entschädigungen gestritten werden. "Zunächst geht es bei den Umweltschäden darum, die Verantwortung des TÜV Süd festzustellen. Wenn diese feststeht, kann man sich damit befassen, den Schaden zu ermitteln", sagt Spangenberg.