Frau Heinemann, welche Bedeutung hatte die Zwangseindeutschung von Kindern für die Nationalsozialisten?
Isabel Heinemann: Ideologisch hatte das eine große Bedeutung für die sogenannte Germanisierung der eroberten Gebiete. Die Idee war ja, diese Gebiete rassenpolitisch umzustrukturieren. Dafür wurden einerseits Menschen, die nicht erwünscht waren, vertrieben, zum Beispiel im besetzten Polen. Deren Häuser und Höfe wurden für "volksdeutsche" Siedler leergeräumt und die Familien in den Osten des Landes deportiert.
Andererseits wurden Kinder, die "arisch" aussahen, als Pflege- und Adoptivkinder in deutsche Familien gebracht, um so das deutsche Volk zu stärken. Die Praxis begann im besetzten Polen, erstreckte sich später aber auch auf die westliche Sowjetunion, Tschechien, Slowenien.
Im polnischen Warthegau wurden erstmals Kinderheime gezielt durchsucht und "sortiert". Später wurden auch Kinder ihren Eltern, beispielsweise alleinerziehenden Müttern, weggenommen. Oft gerieten auch Kinder, deren Eltern man zuvor ermordet hatte, in die Hände der SS, die über ihren Verein "Lebensborn" das Zwangseindeutschungsprogramm organisierte.
"Die Herkunft dieser Kinder wurde systematisch vertuscht, ihre Namen eingedeutscht, sie durchliefen verschiedene SS-Kinderheime."
Lässt sich sagen, wie viele Kinder auf diese Weise verschleppt wurden?
Wir haben keine exakten Zahlen. Das liegt an der Geheimhaltung des Programms. Die Herkunft dieser Kinder wurde systematisch vertuscht, ihre Namen eingedeutscht, sie durchliefen verschiedene SS-Kinderheime. Eigens geschaffene Standesämter haben ihre Geburtsurkunden gefälscht, um sie zu "volksdeutschen Waisenkindern" zu machen. Anhand der mir verfügbaren Daten schätze ich die Zahl europaweit auf rund 50.000 Kinder. Diese Zahl wird auch in der Forschung weitestgehend anerkannt.
"Den meisten Betroffenen geht es darum, dass sie endlich jemand ernst nimmt, zuhört und ihr Leid anerkennt."
Beim Land Baden-Württemberg gibt es seit 2022 eine Fachkommission, bei der Betroffene einen Antrag auf eine symbolische finanzielle Anerkennung stellen können. Einige haben bereits als Zeichen der Anteilnahme eine Zahlung von 5.000 Euro erhalten. Wie helfen Sie und die anderen zwei Forschenden den Antragstellern?
Zu uns kommen Menschen, die immer noch ihre Wurzeln suchen. Manche haben selbst schon recherchiert und fragmentarische Informationen gesammelt, einige engagieren sich aktiv für die Aufklärung der Schicksale geraubter Kinder. Wir versuchen dann, mehr herauszufinden.
Eine wichtige Quelle sind die Arolsen Archives, welche die Akten des Internationalen Kindersuchdienstes verwahren. Dort gibt es zum Beispiel Akten zu etwa 17.000 Kindern, die uns bei der Recherche helfen. Forschungen zeigen, dass ein Großteil dieser Kinder tatsächlich zwangsgermanisierte Kinder waren. Aber wir wenden uns auch an weitere Archive und den Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes. Die Kommission kann allerdings nur dann eine Zahlung leisten, wenn es eine direkte Verbindung nach Baden-Württemberg gibt. In drei Fällen kamen die Kinder jedoch von Slowenien nach Bayern, wo es ein solches Programm nicht gibt.
In jedem Fall können wir aber Nachforschungen anstellen und den Betroffenen zumindest mit Informationen weiterhelfen. Den meisten Betroffenen geht es auch darum, dass sie endlich jemand ernst nimmt, zuhört und ihr Leid anerkennt.
Warum gibt es ein solches Programm in Bayern nicht?
Der bayerische Landtag hat einen Antrag zuletzt 2021 abgelehnt und begründete das damit, dass für Entschädigungen der Bund zuständig sei. Der Bund wiederum hat mehrfach auf Anfragen geantwortet, dass es keine generelle Entschädigung für Zwangsgermanisierung als solche geben soll und verwies auf die existierende Härtefallregelung. Ich würde mir wünschen, dass die bayerische Staatsregierung sich möglichst schnell wie Baden-Württemberg zu einer symbolischen Geste entschließen könnte.
Der Forschungsbedarf in diesem Bereich ist jedenfalls sehr groß. Es gibt nur Einzelfallstudien, aber ein Forschungsprojekt beispielsweise zu zwangsgermanisierten Kindern in Bayern gibt es nicht. Wenn die bayerische Staatsregierung da Expertise braucht, stehen meine Türen weit offen.
"Die Frage, ob sich Unrecht oder ein Wiedergutmachungsanspruch vererben lassen, ist schwierig."
Wird die Arbeit der Kommission in den nächsten Jahren obsolet, wenn die direkt Betroffenen nicht mehr leben? Oder können auch Angehörige einen Antrag stellen?
Die Frage, ob sich Unrecht oder ein Wiedergutmachungsanspruch vererben lassen, ist schwierig. In Baden-Württemberg haben wir uns entschieden, dass nur direkt Betroffene eine Zahlung erhalten können. Deshalb haben wir uns auch so beeilt, die Kommission an der Start zu bringen. Die Betroffenen sind inzwischen ja mindestens 80 Jahre alt.
Aber auch wenn die Betroffenen nicht mehr leben und es keine Zeitzeugen mehr gibt, geht die Forschung weiter. Auch dann wollen wir Schicksale klären, Wirkmechanismen von Unrechtsregimen verstehen.
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