Es sind Bilder, wie wir sie aus Kriegsgebieten kennen, die meistens bequem weit weg liegen: Die fünfte Nacht in Folge gab es in Frankreich Proteste und Ausschreitungen. Viele Deutsche fragen sich verwundert, wie es so weit kommen konnte. Doch die deutschen Medien stehen dem Phänomen weitgehend hilflos gegenüber, haben keine Einordnung, sondern nur Polizeiberichte parat.

Auslöser war Polizeigewalt

Polizeiberichte, die von Journalist*innen so oft als neutrale Tatsachenberichte gelesen und wiedergegeben werden anstatt das, was sie sind: Die Verlautbarungen eines handelnden Akteurs, der Interessen in diesem Konflikt hat. Denn der Auslöser der Proteste, die zum Teil in eskalierende Gewalt umgeschlagen sind, war der tödliche Schuss eines Polizisten. Das Opfer war ein junger Mann, eher noch ein Kind, mit algerischem Background. 

Bei einer Verkehrskontrolle erschoss am vergangenen Dienstag ein Polizist den 17-jährigen Nahel aus Nanterre, einer Banlieu-Siedlung bei Paris. Zunächst hatte die Polizei behauptet, der Jugendliche habe die Beamten angegriffen. Ein Video, das kurz darauf in den sozialen Medien kursierte, zeigte, wie es wirklich war: Der Polizist war zu keinem Zeitpunkt bedroht, er tötete den Jungen einfach kaltblütig.

Erschießung war kein Einzelfall

Wäre das nur ein Einzelfall, wäre die Wut und die Frustration, die sich nun im ganzen Land entlädt, kaum zu verstehen. Allein, das ist es nicht. Polizeigewalt, insbesondere gegen Schwarze und arabisch geprägte Bürger*innen, ist in Frankreich alltäglich, sie hat System.

Meistens gibt es davon keine Videos, und die verantwortlichen Beamten kommen mit Schutzbehauptungen, sie wären angegriffen worden, durch. Doch manchmal ist es auch für eine breitere Öffentlichkeit zu offensichtlich, dass gewisse Personen im angeblichen Mutterland der Menschenrechte zum Abschuss freigegeben sind. Die betroffenen Jugendlichen wissen es ohnehin, aus bitterer Erfahrung.

Polizeigewalt in Frankreich ist kein Versagen Einzelner, sondern ein strukturelles Problem. Das gilt besonders in den Banlieus. Wer schon mal dort war, weiß, dass diese auf Deutsch verharmlosend Vorstädte genannten Siedlungen rund um französische Städte wie Paris, Marseille, Lyon oder Nantes vermeintliche deutsche Problemviertel Neukölln oder Marxloh wie schnuckelige kleine Dörfchen daherkommen lassen.

Die Menschen dort fühlen sich nicht nur ausgegrenzt und abgehängt, sie sind es. Und wenn sie sehen, wie einer, der sie selbst sein könnten, einfach ohne Grund erschossen wird, dann werden sie wütend. Sehr wütend. Zumal sie das nicht zum ersten Mal sehen. Und leider auch nicht zum letzten Mal. 

Autoritärer Präsident Macron

Der Kern des Problems ist also eine Gesellschaft, die bedeutende Teile ihrer eigenen Bevölkerung ausschließt, diskriminiert, manchmal sogar tötet. Doch dazu kommt noch mehr: Der in Deutschland unverständlicherweise immer noch populäre, in Frankreich jedoch weitgehend verachtete Präsident Macron und sein autoritärer Regierungsstil ist ebenfalls mitverantwortlich für die sozialen Unruhen. 

Erst vor wenigen Wochen hat Macron eine Rentenkürzung, die vor allem den Armen schadet, gegen heftigen Widerstand aus dem Parlament sowie der Bevölkerung durchgeboxt, im Stile eines feudalen Herrschers, nicht eines demokratisch gewählten Präsidenten. Seitdem sind öffentliche Auftritte, etwa bei Fußballspielen, kaum noch möglich für ihn, überall wird er mit Buhrufen und "Macron démission"-Sprechchören empfangen ("Macron, tritt zurück!").

Ein Teil der Wut der protestierenden Menschen trifft auch ihn – zumal seine liberale, reichenfreundliche Politik keinerlei Lösungen für die immensen sozialen Probleme Frankreichs bietet. Im Gegenteil. 

Zwei Filme, die Probleme anschaulich machen

Es gibt zwei hervorragende französische Filme, die die in diesem Artikel angerissenen Probleme und ihre Ursachen sehr anschaulich zeigen: Zum einen "Les Misérables" (2019) von Ladj Ly, dessen Titel auf Victor Hugos gleichnamiges Buch anspielt.

Und zum anderen "La Haine" von Mathieu Kassowitz, der bereits 1995 erschienen ist. Er beginnt mit den mittlerweile berühmten Worten: 

"Dies ist die Geschichte eines Mannes, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung."

Der Mann, das ist die französische Gesellschaft. Und wie die Landung aussehen wird, kann derzeit niemand seriös vorhersagen. 

 

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