Laut dem Kriminologen Tobias Singelnstein haben Betroffene von übermäßiger Polizeigewalt es in der rechtlichen Aufarbeitung schwer. "Die Betroffenen haben in Strafverfahren oft wirklich kaum eine Chance, ihre Perspektive auf das Geschehen zur Geltung zu bringen", sagte der Professor für Kriminologie und Strafrecht, der von der Ruhr-Uni Bochum im vergangenen Jahr an die Goethe-Universität in Frankfurt am Main wechselte, der Radiowelle WDR 5.

Polizeigewalt: Mehr als 90 Prozent der Verfahren werden eingestellt

Mehr als 90 Prozent der Verfahren würden eingestellt, zeigt die Zusammenfassung des Forschungsprojektes "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen" (KviAPol) von Singelnstein und einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Frankfurt und Bochum. Die gesamten Forschungsergebnisse sollen am Mittwoch in dem Buch "Gewalt im Amt" veröffentlicht werden.

"Nur äußerst selten" werde Anklage gegen Polizeikräfte erhoben, heißt es in der Zusammenfassung. Laut Staatsanwaltschaftsstatistik passiere das nur in zwei Prozent aller Fälle. "Das ist ungewöhnlich wenig, denn im Durchschnitt landen 22 Prozent aller Verfahren vor Gericht", sagte der Kriminologe dem WDR.

"Diese Chancenlosigkeit ist auch einer der Hauptgründe, warum nur ein geringer Teil der Betroffenen überhaupt Anzeige erstattet."

Die niedrige Anklagequote sei keineswegs nur auf unberechtigte Anzeigen zurückzuführen, sondern vor allem auf strukturelle Besonderheiten, heißt es in den Ergebnissen. Denn Polizei und Justiz verbinde "ein institutionelles Näheverhältnis, das durch eine alltägliche Kooperation bei der gemeinsamen Aufgabe der Kriminalitätsbearbeitung gekennzeichnet ist".

Problembewusstsein bei Polizei gering

Das Problembewusstsein in Polizei und Staatsanwaltschaften sei gering, erklärte Singelnstein. Die Schwelle "für ernsthafte Ermittlungen und eine Anklageerhebung" gegen Polizistinnen und Polizisten sei "deutlich höher als in anderen Strafverfahren". Zudem könne problematisch sein, dass die Ermittlungen gegen Polizeikräfte von deren Kolleginnen und Kollegen geführt werden.

Nur ein Bruchteil der Verdachtsfälle von Polizeigewalt werde überhaupt erfasst, zeigt die vorab veröffentlichte Zusammenfassung der Studie.

In der Betroffenenbefragung des Projekts hätten nur 14 Prozent der Befragten angegeben, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe. Es gebe vermutlich ein sehr großes Dunkelfeld.

Die Ergebnisse basieren auf einer Betroffenenbefragung mit mehr als 3.300 Teilnehmenden sowie mehr als 60 qualitativen Interviews mit Polizisten und Polizistinnen, Richterinnen, Staatsanwälten, Opferberatungsstellen und Rechtsanwälten. Das KviAPol-Projekt wurde 2018 an der Ruhr-Universität Bochum gestartet und ist seit 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt ansässig.

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