"Weniger als zehn Stunden vor dem Angriff war ich mit einer der Begleitpersonen direkt an der Grenze zum Gazastreifen gewesen, um ihr unsere Realität hier zu zeigen."

Seit dem 7. Oktober sind fast vier Wochen vergangen. Wie haben Sie den Terrorangriff erlebt?

Antje C. Naujoks: Am Shabbatmorgen um 6.25 Uhr saß ich mit meinem ersten Kaffee auf dem Balkon und genoss den schönen Herbsttag. Die übliche Stille des Sabbats wurde urplötzlich von einer massiven Geräuschkulisse zweifellos militärischen Ursprungs unterbrochen.

Ich wohne in Be'er Sheva, immerhin 40 Kilometer Luftlinie vom Gazastreifen entfernt. Da Shabbat war, hielt ich eine militärische Übung für unwahrscheinlich. Die Geräusche kamen aus Westen, also aus der Richtung des Gazastreifens. Bevor ich überlegen konnte, was das sein könnte, kam der erste Raketenangriff.

Den Rest des Tages verbrachte ich bis 15 Uhr in meinem Schutzraum, einem baulich verstärkten Zimmer. Vier Stunden lang hatten wir keinen Strom. Meine Gedanken waren bei den deutschen Freiwilligen, die Mitte August ihren einjährigen Dienst in dem Kinderheim begonnen hatten, in dem ich arbeite. Ich dachte auch an die Jugendlichen und Begleiter aus Karlsruhe, die kurz vor dem Angriff im Rahmen eines Jugendaustauschs angereist waren. Weniger als zehn Stunden vor dem Angriff war ich mit einer der Begleitpersonen direkt an der Grenze zum Gazastreifen gewesen, um ihr unsere Realität hier zu zeigen.

Ich musste mich beruflich wie auch privat verpflichtet, sofort zumindest telefonisch um sie kümmern.

Wie haben die Freiwilligen und Jugendlichen reagiert?

Weder die Freiwilligen noch die deutsche Austauschgruppe kennen so etwas wie Sirenenalarm und Raketenangriffe. Das ist beängstigend. Wir Israelis leben damit und haben, so absurd das ist, eine Notfallroutine. Alle hatten Fragen, wie es nun weitergeht, doch die Situation war sehr undurchsichtig, extrem dynamisch.

Somit war wichtig: Selbst Ruhe bewahren, alle beruhigen, auffordern in Nähe der Schutzräume zu bleiben. Wo man nachts schlafen würde? Das würde sich klären, wenn es Abend ist, nicht am frühen Morgen. Die Freiwilligen wie auch die Besucher hatten schwierige Tage, sind aber sicher nach Deutschland zurückgekehrt.

Antje C. Naujoks

Antje C. Naujoks ist in Friesland geboren und aufgewachsen. Nach dem Bachelor-Studium im Bereich Politikwissenschaften an der FU Berlin ging sie nach Israel. Sie setzte ihr Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem fort, arbeitete jahrelang im akademischen Bereich, u.a. für die nationale israelische Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem. Die zudem als Übersetzerin und Journalistin Tätige ist seit über 20 Jahren Beauftrage für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising des Kinderheimes Neve Hanna im Süden Israels.

"Niemand hatte einen Überblick über die Situation."

Wie ging es nach dem ersten Raketenbeschuss weiter?

Knapp zwei Stunden nach dem ersten Raketenangriff kam die erste Meldung, dass sich Terroristen auch in Be'er Sheva aufhalten sollen. Das verunsicherte massiv. Sollte ich den Balkon verbarrikadieren oder ihn als einzigen Fluchtweg offenlassen?

Um 10 Uhr wurde der erste Tote namentlich benannt. Ab diesem Zeitpunkt war dem ganzen Land klar, dass es heftige Kämpfe gab, an mehr Ortschaften als wir aus den Nachrichten wussten. Um 15 Uhr ließ der Raketenbeschuss in Be'er Sheva nach.

In diesem Moment setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb einen Artikel für einen österreichischen Think-Tank. In diesem Artikel verwendete ich das Wort "Massaker", das bis dahin im israelischen Fernsehen niemand in den Mund zu nehmen gewagt hatte, das uns allen aber durch den Kopf ging.

Dennoch: Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass Tausende von Hamas-Terroristen den Süden des Landes überrannt hatten. Niemand hatte einen Überblick über die Situation. Welche schrecklichen Szenarien sich abgespielt hatte, sollte erst in den kommenden Tagen Stück für Stück ans Tageslicht kommen.

Wie verlief die Berichterstattung der israelischen Medien über die Angriffe?

Der überraschende Überfall sorgte für Chaos nicht nur an den Orten des Geschehens, sondern auch bei den Moderatoren aller Medien, die auf Sonderberichterstattung gegangen waren. In der Berichterstattung wurden einige Orte erwähnt, an denen Kämpfe stattfanden.

Aber auch die TV-Moderatoren hatten zunächst keinen Überblick. Dutzende Kibbuzim und Dörfer wurden gleichzeitig angegriffen. Das Militär schien nur punktuell zugegen zu sein.

Daher übernahmen die Medien entscheidenden Aufgaben, aus den Informationsbruchstücken ein Gesamtbild zu machen. Zudem nahmen sie beispielsweise die Hilferufe von Menschen entgegen und leiteten sie weiter, trugen zur Ausführung von Rettungsaktionen bei.

"In dieser schweren Zeit sind wir zusammengerückt. Die Zivilgesellschaft funktioniert aktuell besser als der staatliche Sektor."

Wie ist die Stimmung im Land?

Die initiale Stimmung im Land war von Schock geprägt. Zudem war schnell klar, alle fühlen, dass ihr persönliches Sicherheitsgefühl zutiefst erschüttert ist. Am Shabbat waren alle in Schock, am Sonntag in Schockstarre. Uns war klar, dass hier ist ein Kampf ums Überleben. In dieser schweren Zeit sind wir zusammengerückt. Die Zivilgesellschaft funktioniert aktuell besser als der staatliche Sektor.

Bereits im Laufe des Morgens dieses Sabbats beschloss die größte Anti-Justizreform-Protestbewegung, ihre Proteste einzustellen und sich stattdessen auf Solidarität und Hilfe zu konzentrieren.

Am Abend wurden die ersten Geretteten versorgt, dann gingen Hilfslieferungen raus, lange bevor die staatlichen Behörden in Schwung kamen. Zu denen, die mit dem bloßen Leben davonkamen und versorgt werden mussten, kamen schnell Evakuierte hinzu, um die man sich ebenfalls kümmern müsste.

Wie reagieren die Menschen auf diese schrecklichen Ereignisse?

Pogrome, bei denen Jüdinnen und Juden auf grausame Weise ermordet werden, gehören leider zur Geschichte des jüdischen Volkes. Auf diesen Massenmord verübt von radikal-islamischen Terroristen auf israelischem Hoheitsgebiet war niemand vorbereitet.

Gegenwärtig sind wir alle damit beschäftigt, in unserer Lebensumgebung bestmöglich zu funktionieren und uns nach besten Kräften für die Allgemeinheit einzusetzen, auch wenn ein ganzes Land im Trauma ist.

Was uns die nächsten Wochen als Gesellschaft und als Staat bringen werden, wissen wir nicht. Klar ist allerdings: Der Status Quo ist hinfällig, eine bewaffnete Hamas-Terrororganisation kann Israel nicht weiter an seiner Seite dulden.

Die Menschen wollen zudem, dass die Welt erfährt, was hier geschehen ist, nicht wegschaut. Was aus der Grenzregion wird, keine Ahnung, einige Menschen, die die Hölle erlebt haben, wollen in ihre Kibbuzim und Dörfer zurückkehren, andere nicht.

"Sein Zuhause verlässt man nicht so einfach. Hier kann ich helfen, etwas beitragen, hier findet weiterhin mein Leben statt."

Sie sind deutsche Staatsbürgerin. Sie hätten die Möglichkeit zur Ausreise gehabt. Warum sind Sie in Israel geblieben?

"Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl", sagte Herbert Grönemeyer einmal. Ich fühle mich eher als Frau mit deutschen Wurzeln, im Alltag jedoch als Israelin, denn zwei Drittel meines Lebens, mein gesamtes Erwachsenenleben, habe ich in Israel verbracht.

Jetzt erlebe ich die dunkelste Stunde in der Geschichte dieses Landes, trauere um Freunde, sorgen mich um andere, die diese Schreckensstunden mitgemacht haben. Hier im Land trage ich berufliche Verantwortung, mein Lebensmittelpunkt ist Israel. Sein Zuhause verlässt man nicht so einfach. Hier kann ich helfen, etwas beitragen, hier findet weiterhin mein Leben statt.

Wie bewerten sie die deutschen Reaktionen?

Die Solidarität vieler Menschen in Deutschland ist groß. Vor allem diejenigen, die sich öffentlich für die Freilassung der Geiseln einsetzen und großzügig für Zwecke spenden, um die erste große Not zu lindern. Ich danke allen, die Israel unterstützen und ihre Solidarität zeigen. Doch: Auch in Deutschland tun sich bedenkliche Dinge, Übergriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen, Anfeindungen, das stimmt sehr nachdenklich, aber auch traurig, dass das ausgerechnet auf deutschem Boden wieder einmal geschieht.

Wie wird es weitergehen?

Wir werden seit vielen Jahren von unseren terroristischen Nachbarn bedroht; ich lebe seit 14 Jahren im Süden des Landes, somit seit 14 Jahren mit einem völkerrechtswidrigen Beschuss von Zivilisten mit Raketen. Jetzt wurde eine neue Realität von den Terroristen geschaffen.

So können wir nicht leben. Die Bevölkerung diskutiert sehr offen und kontrovers über die Möglichkeiten eines weiteren Vorgehens. Ich hoffe nur, dass es nicht zu einem Mehrfrontenkrieg kommt.

Kinderheim Neve Hanna – Notfallhilfe Oktober 2023

Neve Hanna will ein warmherziges und liebevolles Zuhause für Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen bieten, die in jungen Jahren schwere Traumata erlebten.

Für die Sicherheit der Kinder und der Teams benötigt das Kinderheim rund um die Uhr bewaffnetes Sicherheitspersonal, das patrouilliert, um das ganze Gelände abzusichern. Dieser dringende Bedarf beläuft sich auf monatliche Ausgaben in Höhe von Euro 3.000, wofür sie auf Spenden angewiesen sind.

Für Spenden über den deutschen Freundesverein "Neve Hanna" – Kinderhilfe e.V. erhalten Sie eine Spendenbescheinigung, wenn Ihre Adresse bekannt ist. Die Spenden kommen zu 100 Prozent in Neve Hanna an, da sich die deutschen Freunde ehrenamtlich engagieren.

Spenden an:
Aachener Bank eG
IBAN: DE84 3906 0180 0826 0320 14
BIC: GENODED1AAC

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