Tausende Indigene sind zum Protest in die Hauptstadt gekommen. In Brasília wollen sie der Politik und der Justiz mit ihrer Demonstration vor Augen führen, was für sie bei der Neuregelung der Landzuweisungen auf dem Spiel steht: ihre Rechte, ihr Lebensunterhalt, ihre Zukunft. Dem umstrittenen Gesetz PL490 hatte das Parlament Anfang Juni zugestimmt, aktuell steht eine Grundsatzentscheidung dazu vor dem Obersten Gericht aus.

Indigene fühlen sich bedroht vom Gesetz

"Stichtagshypothese" heißt der Knackpunkt. Damit soll geregelt werden, dass Indigene in Zukunft nur noch dann ein Recht auf die Ausweisung ihres Landes haben, wenn es sich bei Ausrufung der Verfassung 1988 in ihrem Besitz befand. "Dieser Ansatz ignoriert sowohl die Gewalt der Militärdiktatur als auch Jahrhunderte der Kolonisation", protestiert Ivo Cípio Aurelianovon der Ethnie der Macuxi, der zu der Demonstration extra aus Brasiliens nördlichstem Bundestaat Roraima in die Hauptstadt gereist ist. Viele Indigene hätten keine Möglichkeiten nachzuweisen, dass sie damals schon im Besitz des Landes waren, betont der Anwalt.

"Wir hoffen, dass die Richter gegen die Stichtagshypothese stimmen."

Schon seit Jahren wird in Brasilien an verschiedenen Fronten über diese Regelung, auf Brasilianisch "Marco Temporal", diskutiert. Befürworter - oft aus der brasilianischen Agrarindustrie - argumentieren, der Stichtag sei nötig, um Rechtssicherheit für aktuelle und künftige Projekte zu schaffen. Die indigenen Gemeinschaften hingegen fühlen sich grundlegend bedroht.

"Es gibt noch Dutzende indigene Völker, die kein eigenes Land haben",

sagt Marcello Pereira Macuxi, Koordinator der indigenen Völker in Sao Marcos im Bundestaat Roraima. "Viele von ihnen leben darum in prekären Bedingungen." Aus seiner Sicht ist eigenes Land für Indigene fundamental, sowohl um den Lebensunterhalt zu sichern als auch um Tradition und Kultur zu bewahren.

Annahme des Gesetzes vom Kongress war keine Überraschung

Fachleute gehen davon aus, dass es mit Inkrafttreten der Stichtagshypothese kaum noch Auszeichnungen von indigenen Gebieten geben würde. Derzeit gibt es 429 offiziell anerkannte indigene Gebiete in Brasilien, die jedoch nur knapp 31 Prozent der gesamten, von indigenen Völkern beanspruchten Fläche ausmachen.

Vor dem Obersten Gerichtshof wird aktuell ein Präzedenzfall aus dem Bundesstaat Santa Catarina verhandelt. Zugleich läuft auch seit längerem das Gesetzgebungsverfahren PL490 zu "Marco Temporal". Schon unter der Regierung des rechtextremen Präsidenten Jair Bolsonaro (Januar 2019 bis Ende vergangenen Jahres) war PL490 immer wieder kontrovers diskutiert worden. Zuletzt stimmte nun der Kongress für den Gesetzesvorschlag - keine große Überraschung, da dort Anhänger der Agrarindustrie eine Mehrheit haben.

Gesetz hat Auswirkungen auf das Weltklima

Trotzdem ist der Kongressbeschluss für die indigenen Völker und auch für den neuen linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ein herber Rückschlag. Das Gesetzesvorhaben muss noch durch den Senat, doch auch dort hat die Agrarindustrie starke Unterstützung. Zwar kann Lula noch sein Veto einlegen, doch die Parlamentszustimmung zeigt den großen Gegenwind, der dem Präsidenten für seine Projekte und Zusagen entgegenschlägt.  Das sehen auch viele Indigene:

"Der Präsident hat sich zwar geändert, aber das Parlament ist noch immer fast gleich",

sagt Marcello Macuxi. Dadurch würden die Rechte von Indigenen auch immer wieder zu Verhandlungsmasse.

Nicht nur für die Menschen in Brasilien, sondern auch fürs Weltklima könnte entscheidend sein, wie die Diskussion rund um die Stichtagshypothese ausgeht: Denn in indigenen Schutzgebieten schreitet die Abholzung wesentlich langsamer voran als in anderen Teilen des Landes. Lula hatte im Wahlkampf nicht nur versprochen, sich für eine Stärkung der Rechte der Urvölker einzusetzen, sondern auch die illegale Abholzung im Land zu beenden. In den ersten Monaten des Jahres ging die Entwaldungsrate tatsächlich zurück. Anfang Juni präsentierte der Präsident nun auch einen 150-Punkte-Plan, wie Brasilien der Abholzung bis 2030 ein Ende machen möchte. Wie erfolgreich er den umsetzen kann, bleibt aber abzuwarten.

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