Sitzen zwei Kirchenmänner in einer Pizzeria. (So beginnen üblicherweise Witze, aber in diesem Fall ist es keiner.) Der eine fragt den anderen: "Wer ist eigentlich der freieste Mensch in der evangelischen Kirche?" Der andere (in diesem Fall ich) überlegt. Der freieste Mensch in der evangelischen Kirche? Gute Frage. Der Landesbischof vielleicht? Oder der Personalchef? Die Dorfpfarrerin in the middle of nowhere fern von allen Dienstvorgesetzten? Die Klinikseelsorgerin auf der Palliativstation? Der Dekan im Ruhestand? Die Religionspädagogin in einer ersten Grundschulklasse? Der Theologieprofessor, der sagt, was er denkt?

Uns will keine so richtig unwiderstehliche Antwort einfallen. Aber wir sind uns einig, dass es eine echt gute Frage ist.

Am nächsten Morgen wache ich auf, und es fällt mir wie Schuppen von den Augen. So (oder so ähnlich) muss sich Luther bei seiner reformatorischen Entdeckung gefühlt haben. Der freieste Mensch in der evangelischen Kirche! Jeder evangelische Christ ist es. Jeder evangelische Christ ist der freieste Mensch in der evangelischen Kirche. Denn die evangelische Kirche ist der freieste Ort der Welt. Und zwar deshalb, weil ihr Reich (ebenso wie das Reich ihres Herrn) nicht von dieser Welt ist. Es gibt keine andere Antwort auf die Frage nach dem freiesten Menschen in der evangelischen Kirche. Jede andere Antwort wäre keine evangelische Antwort. Es ist tatsächlich ganz einfach. Je geringer der Grad der Freiheit, desto weniger evangelisch. Punkt.

Aus der Enge in die Unendlichkeit

Man erkennt das Evangelische also daran, dass es anders daherkommt als Darth Vader in der legendären Eingangsszene der ersten "Star Wars"-Folge. Nicht halszuschnürend und erstickend. Sondern atemberaubend befreiend. Dort, wo man keine Luft mehr bekommt und auch anderen keine Luft mehr gönnt, ist man nicht mehr in der evangelischen Kirche. Denn das Evangelium stellt unsere Füße auf weiten Raum. Es erweitert den Horizont unseres Geistes. Es führt uns aus der Enge in die Unendlichkeit.

Die Entdeckung, dass evangelische Christenmenschen die freiesten Menschen der Welt sind, eröffnet ungeahnte erhebende Möglichkeiten. Selbstbewusstseinsmöglichkeiten aller Untergangsstimmung, allen trostlosen Kirchenent­wick­lungs­prognosen und allen Erschöpfungsdepressionen zum Trotz. Antidepressive Glaubensmöglichkeiten sozusagen. Und zwar für alle, die in der evangelischen Kirche unterwegs sind, sich um sie sorgen, für sie Verantwortung tragen, an ihr leiden und sich fragen, wie es mit ihr weitergeht. Komme, was da wolle, es ist alles nicht so schlimm. Denn eins kann uns niemand nehmen. Die Freiheit der Kinder Gottes. Und das Reich unseres Herrn, das nicht von dieser Welt ist und für das nichts in dieser Welt spricht – außer ein paar verrückten Christenmenschen, die unentwegt daran erinnern, dass uns niemand dieses Reich rauben kann. Es ist also wirklich alles nicht so schlimm. Gott sei Dank.

Nein, ich mache es mir nicht zu leicht mit dieser Antwort. Ich unterschätze weder die Navigationsnotwendigkeiten einer kleiner werdenden Großorganisation noch die seelischen Belastungen Haupt-, Neben- und Ehrenamtlicher angesichts der täglich sichtbarer werdenden Tatsache, in keiner Boombranche zu agieren. Aber ich weiß, dass es seit zweitausend Jahren zum Wesen christlicher Existenz gehört, als Christ in der Welt und in den Stromschnellen der Geschichte ein wenig verloren zu sein und sich nach etwas mehr Evidenz und Relevanz, sozusagen nach Oberwasser zu sehnen. Von je her war deshalb die Versuchung der Kirche groß, sich auf irgendeine Weise triumphal in der Welt zu behaupten, stark und mächtig oder doch zumindest eine Mehrheitsvolkskirche, also eine irgendwie eindrucksvolle gesellschaftliche Akteurin sein zu wollen.

Wenn man auf die Kirchengeschichte blickt, dann zeigt es sich, dass die Misere der Kirche nicht dort am größten war, wo ihre Ohnmacht am größten war, sondern dort, wo sie die irdische Macht auf ihrer Seite hatte oder auf ihrer Seite haben wollte. Immer dann, wenn die Kirche ein bisschen zu sehr von dieser Welt sein wollte, war sie als Kirche irgendwann nicht mehr wiederzuerkennen. Sie wurde faul, weil sie ihrer Sache zu sicher war. Sie faulte von innen heraus. Sie wurde zum gefundenen Fressen ihrer Feinde.

"Du hast keine Macht über mich"

Eigentlich bin ich ja kein Fan von Mel Gibsons blutrünstigem Jesusfilm "The Passion of the Christ". Abgesehen davon, dass der Film voller Judenhass und nach meinem Geschmack auch ein wenig zu römisch ist, trägt er ein bisschen zu dick auf. Aber eine Szene geht mir auch nach den zwanzig Jahren, die der Film jetzt alt ist, nicht aus dem Kopf. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sich die Szene im Film exakt so abspielt wie in meinem Kopf. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache, weil sie sich in meiner Erinnerung unauslöschlich mit dem Film verbunden hat. Es ist die Szene, in der der gefolterte und verprügelte Christus vor Pontius Pilatus sitzt. Pilatus fragt Jesus: "Warum redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich die Macht habe, dich loszugeben, und die Macht, dich zu kreuzigen?" Jesus, der ein Bild des Jammers ist und kaum mehr sprechen kann, weil man ihm die Zähne ausgeschlagen und den Kiefer zertrümmert hat, sagt: "Du hast keine Macht über mich."

Der das sagt, ist der freieste Mensch der Welt. Er ist der freieste Mensch der Welt, weil sein Reich nicht von dieser Welt ist. Er ist der freieste Mensch der Welt, weil er weiß, dass er zwar in der Welt verloren, aber der unverlierbare Sohn seines Vaters im Himmel ist. Und weil der, der das sagt, auch der Herr der Kirche ist, sollte sich kein evangelischer Christ von irgendwelchen kirchlichen oder gesellschaftlichen Entwicklungen den Schneid abkaufen lassen. Was auch immer kommen mag, die evangelische Kirche kann ihre beste Zeit niemals hinter sich haben. Wir haben nichts zu verlieren. Wirklich nicht. Allenfalls den Glauben, dass wir frei sind und dass die evangelische Kirche der freieste Ort der Welt und genau deshalb einer der interessantesten und abenteuerlichsten Lebens- und Arbeitsplätze zwischen Himmel und Erde ist.

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