Wenn nun, nach vielen Irrungen und Wirrungen, die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" unterzeichnet wird, so ist dies ein ökumenisches Ereignis, das bis vor kurzer Zeit undenkbar gewesen wäre. Galten doch die Rechtfertigungslehre der Reformation und die katholische Gnadenlehre über Jahrhunderte als unvereinbare Gegensätze. Einvernehmen gab es allerdings schon länger darüber, dass die "Rechtfertigung des Gottlosen" dem heutigen Menschen unverständlich geworden sei.

Was Rechtfertigungsbotschaft und Gnadenlehre bedeuten

Es ist wahr, die Sprache, Bilder und Vorstellungen, mit denen die Rechtfertigungslehre das Evangelium formuliert, sind uns oft fremd. Was haben Rechtsgeschäfte mit dem persönlichen Verhältnis zu Gott zu tun? Und setzt uns die "Rechtfertigung des Gottlosen" nicht fortwährend auf die Anklagebank? Viele halten das für typisch protestantisch: Zerknirscht sein, sich kasteien - und lehnen es ab.

Zu Recht, wenn das wirklich die Absicht der Rechtfertigungsbotschaft wäre. Aber: Als er diese Botschaft verstanden hatte, hörte der Mönch Martin Luther gerade damit auf, sich zu kasteien, und pries statt dessen fröhlich die Freiheit eines Christenmenschen vom Gesetz des Gutseinmüssens. Und er folgte damit dem Apostel Paulus: Freiheit, Freude, ein "neues Leben", weil seit Jesus Christus das Verhältnis zwischen Mensch und Gott nicht mehr von menschlichen Möglichkeiten bestimmt wird, sondern von Gott selbst. Denn Gott schenkt die "Gerechtigkeit, die vor Gott gilt" (Römer 3,21) jedem Menschen, der sie nur haben will: "aus Gnade", "im Glauben". Umgekehrt besagt die Rechtfertigungsbotschaft das Ende jedes Leistungszwanges vor Gott!

Glücklicherweise ist die Rechtfertigungslehre keineswegs die einzige biblische Formulierung der Christusbotschaft, man lese die Evangelien. Auch der Reformator, der gegenüber der gnadenverwaltenden Papstkirche das "allein aus Glauben" so betonte, er formuliert das Evangelium auch ganz anders: als "fröhlicher Tausch" zwischen Christus und der Seele oder als "Göttlichwerden" des christusgläubigen Menschen. Daher ist es nicht verdächtig, die Rechtfertigungsbotschaft in den eigenen Erfahrungsraum zu übersetzen. Man kann sie auf die Frage nach Sinn in einer Welt voller Widersinn beziehen oder auf die Frage nach dem Lebensmut, den man in Erfahrungen von Einsamkeit, Angst und Verzweiflung braucht.

Rechtfertigungsbotschaft beantwortet Frage: Wer bin ich?

Ein alltäglicherer Bezug leuchtet fast noch mehr ein. Die Rechtfertigungsbotschaft beantwortet nämlich letztlich die Frage: Wer bin ich? Und der rechtfertigende Glaube besteht darin, die Beantwortung dieser Frage in Gottes Hand zurückzulegen, weil Gott mir selber sagt: Du bist mir recht. Luthers Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" ist sie auch unsere? Zumal wenn es stimmt, dass Gott uns so annimmt, wie wir sind, jenseits des gnadenlosen Leistungsprinzips?

Wollen wir vom Prinzip "anzuerkennende Leistung" für uns selbst wirklich und endgültig Abschied nehmen? Können wir das willentlich wollen? Die Reformatoren waren da sehr realistisch. Luther sprach vom "unfreien Willen", ja behauptete, auch der gerechtfertigte Christ sei in dieser Hinsicht zugleich noch Sünder - dieses "zugleich" ist bis in die "Gemeinsame Erklärung" strittig geblieben.

Rechtfertigender Glaube lebt von Vergebung

Der Sachverhalt ist im Grunde einfach: Kann man beispielsweise Angst willentlich loswerden? Nein. Kann man sein Wollen nicht wollen? Natürlich nicht. Kann man auf sein Selbstkönnenwollen verzichten und es dann ein für allemal loshaben wollen? Auch das nicht. Jemand anderes als wir selbst müsste uns "ein neues Herz und einen neuen Geist" (Hes 36,26) schenken, das die verkrampfte Selbstwidersprüchlichkeit jenes Selbstseinwollens erkennt und vor sich selbst zugeben kann. Dann kann es sich in Loslassen verwandeln, in Seinlassen, in Sichverlassen auf Gott: Rechtfertigung des Gotteskonkurrenten (das ist der richtigere Ausdruck für "Gottloser"). Dies ist möglich, weil Gott in Jesus Christus selber für unsere Versöhnung mit ihm und mit uns selbst eingetreten ist. Rechtfertigung "um Christi willen".

Gott nimmt uns von sich aus als seine Geschöpfe an, und genau deshalb akzeptiert er nicht, wenn unser Selbst sich hochmütig oder auch depressiv auf sich selbst zu Tode versteift. Er trennt uns von unserem eingebildeten Gottsein. Sein Selbst selber begründen zu können, das wäre ja, wie Luther sagte, gleichbedeutend mit Gottsein. Wenn ein Geschöpf dies versucht, dann ist das Sünde, die Sünde schlechthin, die gegen das Erste Gebot. Der rechtfertigende Glaube lebt daher stets auch aus der Vergebung der Schuld, die das Misstrauen gegen Gottes Liebe, die mehr oder weniger bewusste Konkurrenz zum Gottsein Gottes auf sich lädt.

Freiheit von uns selbst

Der Christusglaube hat zu Recht einen kritischen Aspekt. Er macht gewiss nicht künstlich zu Sündern, die vor einem sadistischen Gott im Staub liegen müssten. Aber die Freiheit vom Prinzip "wertvolle Leistung" muss eine Freiheit auch von uns selbst sein. Sie schließt ein Gewissensgericht ein: über unsere Unfreiheit uns selbst gegenüber. Denn unser schlimmster Feind, derjenige, der sogar unsere Seele zerstören kann, sind allemal wir selbst.

Im Namen Jesu Christi stellen wir die Frage nach dem Selbst dagegen richtig, heilsam. Im gottvertrauenden Glauben gerechtfertigt sein, das heißt mit Herz und Hand unterscheiden zwischen menschlichen Aufgaben und dem, was nun einmal Sache des Schöpfers ist: die Frage zu beantworten: Wer bin ich?

Rechtfertigungslehre im Katholischen

Lässt eine solche Formulierung der Rechtfertigungslehre auch eine "Gemeinsame Erklärung" zu? Die Antwort ist ein klares Ja im Blick darauf, dass "allein aus Gnade" auch römisch-katholische Überzeugung ist. Die Antwort ist ein zögerliches Ja im Blick darauf, dass "allein im Glauben" keine lehramtlich römische Überzeugung ist. Denn in der Priesterkirche hat die Rechtfertigungsbotschaft ihren "Sitz im Leben" in der seelsorgerlichen und erziehenden Begleitung der Lebensentwicklung eines Christen durch den gnadenspendenden Priester.

Die Rechtfertigung ist dabei ein Moment der Gnadenvermittlung an den Menschen, der sich nun, als Christ, mit neuer Kraft tätig auf Gott hin bewegen kann und soll. Daher ist hier nicht von "Rechtfertigungslehre", sondern von "Gnadenlehre" die Rede, von einer Instruktion des Beichtvaters sozusagen. Sie ist stets ein Aspekt des Selbstverständnisses der menschenführenden Kirche.

Rechtfertigungslehre im Evangelischen

Die evangelische Formulierung der Rechtfertigungslehre verdankt sich einer durch und durch existenziellen Perspektive. Ihr "Sitz im Leben" ist - auch in allem geistlichen Wachstum im Leben mit Gott - das immer erneute Stehen des Christen vor Gott. Die Kirche hat dabei ausschließlich eine dienende Rolle, die des Zuspruchs der Christusbotschaft, zu der jeder Christ kraft der Heiligen Schrift jedoch ein ebenso unmittelbares Verhältnis hat wie die verkündigende Kirche.

Wie gemeinsam die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" tatsächlich ist, wird sich also zeigen, wenn ihre kirchlichen Folgen zur Debatte stehen. Die evangelische Rechtfertigungslehre jedenfalls erlaubt und ermutigt zu eucharistischer Gastfreundschaft für die römisch-katholischen Mitchristen.