Wenn Monika Berwanger über den jüdischen Friedhof in Allersheim im Landkreis Würzburg läuft, kann das für Außenstehende mitunter etwas sonderbar wirken. Die Theologin fotografiert dort Grabsteine. Aber sie macht nicht nur ein oder zwei Bilder je Grabstein, sondern 80 bis 120 aus verschiedenen Perspektiven. Ihr Ziel: Völlig verwitterte Inschriften lesbar zu machen. Dabei hilft moderne Technik - und Fachwissen aus Oberfranken.

Friedhof mit langer Geschichte und überregionaler Bedeutung

Der Allersheimer Friedhof im Ochsenfurter Gau liegt rund 700 Meter vom Ortskern entfernt. Es ist ein rund 350 Jahre altes Kulturdenkmal von überregionaler Bedeutung: Auf dem Verbandsfriedhof haben mehr als 4.000 Landjuden ihre letzte Ruhe gefunden. Er dokumentiert in einzigartiger Weise das jüdische Leben und Sterben vom letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ungefähr 1.600 Grabsteine sind noch erhalten, aber immer weniger Inschriften sind noch lesbar - denn der Zahn der Zeit nagt an ihnen.

"Sandstein ist nichts für die Ewigkeit",

sagt Historiker Riccardo Altieri, der Leiter des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur, das vom Bezirk Unterfranken und der Stadt Würzburg getragen wird. Deshalb wird auf jüdischen Friedhöfen schon seit vielen Jahren fotografisch dokumentiert. Doch auf den Fotos etwa aus den 1990er-Jahren könne man oft nur sehr wenig erkennen. "Da sind die Grabsteine teilweise verschattet", sagt Berwanger. Oder die Bilder seien unscharf. Und selbst auf guten Fotografien könne man wegen Flechten und Moosen die verwitterte Schrift kaum lesen.

So können die 3D-Modelle helfen

Genau an dieser Stelle kommt nun Wolfgang Hegel vom Bezirk Oberfranken ins Spiel, der dort im Bereich der Kultur- und Heimatpflege arbeitet. Er hatte auf dem jüdischen Friedhof Autenhausen bei Seßlach im Landkreis Coburg das gleiche Problem. Anlässlich des Jubiläumsjahres "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland" 2021 wurden dort Fotos erstellt. "Ich habe dann einfach mal die 'Structure-from-Motion'-Technik ausprobiert", erläutert er. Das heißt: Aus vielen zweidimensionalen Fotos wird ein 3D-Modell errechnet.

Dieses Fachwissen machen sich nun die Unterfranken zunutze - auf kollegialer Amtshilfe-Basis. "Herr Hegel müsste das nicht machen", betont Altieri. Aber Wolfgang Hegel will. Konkret schaut das so aus: Er lädt alle Fotos eines Grabsteins in ein Photogrammetrie-Programm, das aus den zweidimensionalen Bildern ein 3D-Modell macht. Dieses Modell wiederum wird dann in einem weiteren Programm nachbearbeitet. Mit technischem Geschick kann man so fast unsichtbare Inschriften wieder lesbar machen.

Monika Berwanger ist begeistert: "Ich hätte das nicht für möglich gehalten." Nicht nur, dass man verloren geglaubte Inschriften wieder lesen, übersetzen und für die Nachwelt dokumentieren kann - man muss dafür auch nicht Hand an die Grabsteine anlegen:

"Oft beschädigt man die empfindlichen Steine schon, wenn man nur versucht, eine Flechte oder Moos abzukratzen."

Riccardo Altieri ist angetan von der Methode, weil sich quasi jeder, der einen Fotoapparat bedienen kann, an der Dokumentation alter Grabsteine beteiligen kann.

"Das ist ein Paradebeispiel für ein Bürger-Wissenschafts-Projekt", sagt Altieri. Und Wolfgang Hegel ergänzt: "Mit diesem Vorgehen schafft Heimatpflege vor Ort eine Identifikation mit erhaltenswerten Denkmalen." Denn anders als früher müssten eben "keine Experten von außerhalb" mit sündhaft teurem Equipment kommen, die dann irgendwann wieder weg sind - und mit ihnen das Fachwissen über das vor Ort Dokumentierte. Aktuell sei man noch in der Pilotphase, "aber künftig soll eine Beteiligung für jeden überall möglich sein", sagt Altieri.

3D-Modell eines jüdischen Grabsteins - man erkennt hebräische Schriftzeichen auf der Frontseite des Grabsteins
3D-Modell eines jüdischen Grabsteins - Text lesbar gemacht

Dokumentation der jüdischen Grabsteine ist wichtig

Das Johanna-Stahl-Zentrum ist freilich nicht die einzige Einrichtung, die sich um die Dokumentation der jüdischen Grabsteine bemüht - auch das Landesamt für Denkmalpflege ist aktiv. Allerdings mit einem "anderen Ansatz", sagt Altieri. Die Behörde lasse von Profifotografen maximal zwei Fotos pro Grabstein schießen. "Jedes Foto von einem Grabstein zu Dokumentationszwecken ist gut", betont er. Doch für eine Transkription seien mehr Fotos oft besser, die Photogrammetrie-Methode sei da zielführend - auch mit Blick auf noch unbekannte technische Nachbearbeitungsmöglichkeiten der Zukunft.

Weshalb die alten jüdischen Grabsteine - nicht nur in Allersheim - überhaupt dokumentiert werden müssen, erläutert Historiker Altieri:

"Natürlich gibt es auch für jüdische Friedhöfe Verzeichnisse und Listen, wie man sie aus christlichen Kirchbüchern oder Behörden kennt."

Doch zum einen sei das handschriftliche Hebräisch aus dem 17. bis 19. Jahrhundert selbst für Experten heute nur noch schwer lesbar - zum anderen gingen durch die Auflösung zahlreicher Landgemeinden und schließlich durch den NS-Terror viele Unterlagen verloren.

Von den 1.600 noch existenten Allersheimer Grabsteinen haben Monika Berwanger und ein Team von der Uni Würzburg um die 250 bereits übersetzt - bislang allerdings größtenteils ohne die Hilfe der neuen Technik. "Jetzt wird das alles einfacher und hoffentlich besser gehen", hofft sie. Denn der Zahn der Zeit hört nicht auf, an den Grabsteinen zu nagen.

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