Die anglikanische Weltkirche ringt weiter im Streit um die theologische Beurteilung der Homosexualität. Aus Sicht der Ökumene-Expertin Miriam Haar muss dieser Streit bei der aktuell tagenden 15. Lambeth-Konferenz auch vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung des globalen Südens verstanden werden:
"Angesichts der westlichen Hegemonie ist es wichtig, dass man den Kirchen des Südens die Chance gibt, die eigene Position zu formulieren."
Die Referentin für Anglikanismus und Weltökumene des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim beobachtet vor Ort im englischen Canterbury die Vollversammlung der anglikanischen Bischöfe.
"Zur Dekolonialisierung gehört auch, sich auf Augenhöhe mit Positionen auseinanderzusetzen, denen wir nicht zustimmen können."
Positionspapier fordert: Ehe nur zwischen Mann und Frau
Am vergangenen Dienstag hatten die mehr als 650 versammelten Bischöfe ein schon vor Tagungsbeginn umstrittenes Positionspapier einer Gruppe von Bischöfen diskutiert, den "Lambeth Call on Human Dignity". In der ersten Fassung enthielt das Papier den Aufruf, die 1998 von der Anglikanischen Gemeinschaft verabschiedete Resolution I.10 zu bekräftigen. Diese hält fest, dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden könne.
Viele Kirchen wie etwa die Episkopalkirche in den Vereinigten Staaten sind davon längst abgewichen, indem sie gleichgeschlechtliche Paare segnen oder sogar trauen. Der Veröffentlichung des Human-Dignity-Calls folgte Ende Juli ein Aufschrei in der westlichen Welt. Daraufhin strichen die Verfasser den Aufruf aus dem Text heraus.
Viele afrikanische Bischöfe können liberalen Positionen nicht zustimmen
Zudem habe die Tagungsleitung entschieden, das Papier nicht zur Abstimmung zu bringen, erläuterte Haar. Viele westliche Theologen, etwa aus Schottland oder Brasilien, könnten dem Erzbischof des Südsudans, Justin Badi, zwar kaum zustimmen. Dieser hatte am Dienstag die "geistliche Verwirrung" und die "moralischen Verschiebungen" der Gegenwart beklagt.
"Dennoch können wir von afrikanischen Bischöfen nicht erwarten, dass sie hier in Canterbury einer liberalen Position zustimmen, die in ihrer Heimat kaum mehrheitsfähig ist", gab Haar zu bedenken.
Homosexualität in manchen Ländern illegal
Anglikanische Christen seien in vielen afrikanischen Ländern oft in der Minderheit und befänden sich in einem religiös, konfessionell und gesellschaftlich konservativ geprägten Umfeld. Mancherorts seien homosexuelle Praktiken sogar illegal, erläuterte Haar.
Für einige Bischöfe aus solchen Ländern sei die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare daher ein Angriff auf die Ehe und ein Angriff auf die Autorität der Bibel. "Sie möchten zu einer aus ihrer Sicht moralisch und theologisch integren Weltkirche gehören", betonte die Theologin.
"Bei dem Streit um Sexualität und Ehe steht aus ihrer Sicht auch die Existenz der Kirche auf dem Spiel."
Der Streit drohe die Kirchengemeinschaft weiter zu schwächen und damit das anglikanische Ziel der weltweiten Einheit der Christen in größere Ferne zu rücken, warnte Haar:
"Doch auch politisch wäre der Schaden groß. Der internationale Kampf gegen Klimawandel, Krieg, Armut und Hunger wäre erheblich erschwert, wenn es die Anglikanische Gemeinschaft und ihre Netzwerke nicht mehr gäbe."
Die anglikanische Weltkirche
Die Anglikanische Gemeinschaft, umgangssprachlich auch die anglikanische Kirche, ist eine weltweite christliche Kirchengemeinschaft, die in ihrer Tradition evangelische und katholische Glaubenselemente vereinigt, wobei die katholische Tradition in der Liturgie und im Sakramentsverständnis (insbesondere dem Amtsverständnis) vorherrscht, die evangelische in der Theologie und der Kirchenverfassung.
Anglikanische Kirchen gibt es vor allem in englischsprachigen Gebieten sowie in den Ländern des Commonwealth (insbesondere den Commonwealth Realms). Vereinzelte Gemeinden finden sich auch in den meisten übrigen Staaten. Weltweit umfassen die Gemeinden rund 77 Millionen Gläubige.