1911 uraufgeführtes "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" gilt seit über 100 Jahren Aufführungstradition bei den Salzburger Festspielen als der Inbegriff des Theaters unter freiem Himmel. Im Mittelpunkt steht der "Jedermann" – ein Protagonist, der nicht weiter benahmt wird, sondern nur durch seinen sprechenden Nachnamen an sich wirkt und damit quasi mit der Brechstange die Identifikation mit dem Zuschauer hergestellt wird: "Das könnte ich sein".

Jedermann ist ein arroganter Reicher, der sein Leben lang rücksichtlos dem Mammon gefrönt hat (der im Laufe des Stückes ebenso in Persona erscheint) und im Laufe einer kurzen Vorhandlung einen seiner Schuldner einsperren lässt und seinen Nachbarn links liegen lässt, der knapp bei Kasse ist. Selbst die eigene Mutter, die ihn an Gott als Richter am Ende des Lebens erinnert und an ihn appelliert, sich seines christlichen Glaubens zu erinnern, verlacht dieser Schnösel.

Die Wende kommt, als der Tod ihn holen will. Völlig überrascht bittet Jedermann um Aufschub, jemanden zu finden, der mit ihm vor das Jüngste Gericht tritt. Die eine Stunde Frist wird ihm gewährt – jedoch wendet sich jeder  vermeintlich treu geglaubte Gefährte von ihm ab. Letztlich bietet ihm "der Glaube" an, ihn zu begleiten, wenn er sich doch noch zu Gott bekennt. Jedermann lässt sich darauf ein und springt dem Tod zwar nicht von der Schippe, wird aber doch erlöst. Am Ende unkt der Teufel über dies Posse: "Die Welt ist dumm, gemein und schlecht, und geht Gewalt allzeit vor Recht, ist einer redlich, treu und klug, ihn meistern Arglist und Betrug."

Arroganter Kotzbrocken und Tollpatsch

In Feuchtwangen schlüpft Thomas Hupfer in die Titelrolle – und muss sich dadurch sofort den Vergleich mit prominenten "Original-Jedermännern" gefallen lassen. Legenden wie Curd Jürgens, Maximilian Schell, Klaus-Maria Brandauer oder Tobias Moretti verkörperten ihn schon. Auf der Bühne der Kreuzgangspiele war Hupfer schon Faust oder Luther.

Sein "Jedermann" ist erstaunlich vielschichtig. Da ist zum einen der Charakterzug des arroganten, selbstverliebten Kotzbrockens, die auch sein "guter Gesell", gespielt von Michael Grötzsch überzeugend verkörpert. Zum anderen fügt Hupfer dieser Reizfigur aber auch durchaus eine komische Variante hinzu, wirkt manchmal tollpatschig und getrieben, wie ein Louis de Funés, dem Hupfer auch ein bisschen ähnlich sieht. Und wenn Hupfer am Ende den Geläuerten, Nachdenklichen gibt, füllt er seine Rolle noch einmal kongenial aus.

Grandios auch Lennart Matthiesen, der als einfältiger Vetter Jedermanns mit Lautengesang an der Tafel zu überzeugen versucht und später als goldbegleiteter Mammon einem US-HipHop-Videoclip entsprungen zu sein scheint. Und auch Ulrich Westermann als Tod sticht heraus: Wenn er dreimal "Jedermann" laut zum Gang vor das Jüngste Gericht ruft, dann fährt das nicht nur dem Gemeinten durch Mark und Bein, sondern auch dem Publikum.

Offenes Ende

Das verbleibt am Ende der gut anderthalbstündigen Aufführung überrascht. Denn so viel sei verraten: Der "Jedermann" in Feuchtwangen anno 2023 kriegt am Ende ein Happy End, allerdings ein immer noch offenes. Kaetzler lässt offen, ob Jedermann dem Tod folgen wird. Dem Regisseur ist wichtig, dass die zentrale Figur im Laufe der Handlung eine Entwicklung durchgemacht und die Erkenntnis erlangt hat, dass es sich lohnt, über sein Leben ernsthaft nachzudenken. Eine Chance, derer sich auch das Publikum bewusst werden soll. Der Tod kommentiert in Feuchtwangen die Szenerie am Ende so: Wie wundervoll sind diese Wesen, die, was nicht deutbar, dennoch deuten, was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden und Wege noch im ewig dunklen finden". Ein Zitataus Hoffmansthals rund 20 Jahre früher entstandenen Werks "Der Tor und der Tod".

Ein Wagnis also für die Theatermacher, das Ende umzudeuten, was noch viel diskutiert werden wird. Allerdings: Wer den "Jedermann" inszeniert, begibt sich außerhalb jeglicher Komfortzone. In der hat sich das Ensemble der Kreuzgangspiele gerade in den letzten Jahren zwar nie entspannt. Auch wenn leichtgängigere Stoffe wie "Im weißen Rössl" (2022) oder "Dracula" (2021) gut ein breiteres Publikum einluden, wurden beispielsweise mit "Faust" (2018) oder "Acht Frauen" (2019) immer wieder Stoffe auf der Bühne im Kreuzgang des ehemaligen Augustiner Chorherrenstifts dargeboten, die zum ewigen Kanon deutscher Theatergeschichte gehören beziehungsweise ein intellektuell anspruchsvolleres Pubikum ansprechen sollten. Trotzdem: "Jedermann" auf Freilichtbühne zu inszenieren, das ist ein bisschen wie Wagners "Ring" außerhalb von Bayreuth zu zeigen – für Puristen geht das gar nicht, und immer wieder wird man am "Original" gemessen.

Wagnis Theater

Im Falle des "Jedermann" ist eine Neuinszenierung für Theateraffine also auch immer wieder ein Politikum. Was einerseits verständlich ist, wird das österreichische Kult-Stück doch seit 1920 jedes Jahr auf dem Platz vor dem Salzburger Dom aufgeführt – ein "Setting", das nahezu wagnerianisch verklärt wird. Andererseits. Während Wagners für das Bayreuther Festspielhaus eigens konzipierte Werke eben dort den Nimbus des Einzigwahren mit sich bringen, ist der "Jedermann" doch eine Geschichte, die an sich so universell ist, dass sie auch in der Nachbargarage gespielt werden könnte.

Hofmannsthal entlehnte einem englischen Theaterstück des frühen 16. Jahrhunderts das Szenario, dessen Themen auch schon im mittelalterlichen Minnesang behandelt wurden. Neu war vor über 100 Jahren das immer noch frisch wirkende Versmaß und das Ersetzen jeglicher mit Namen versehener Protagonisten mit rein allegorischen Stellvertretern. Das bewusste Offenlassen der Charaktere neben des seit Menschengedenken bekannten Grundkonflikts zwischen den eigenen Abgründen, den eigenen Wertvorstellungen und der Ethik des Miteinanders fesselt die Theaterbesucherinnen und –besucher noch heute.

Weitere Aufführungstermine finden Sie hier.

 

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