Herr van Veen, Ende 2022 haben Sie sich bei einem Konzert in Würzburg mit den Worten verabschiedet: "Ich bin der glücklichste Mensch hier im Saal, weil ich mit 77 Jahren das alles immer noch machen darf." Am 14. März werden Sie 80 Jahre alt und touren fleißig weiter. Was ist Ihr Jungbrunnen?
Herman van Veen: Es ist sind die Gene natürlich, aber vor allem der Spaß, den ich am Leben habe. Die Idee, dass ich heute spielen kann, ist für mich eine sehr gute Wirklichkeit. Weil ich es einfach genieße. Ich glaube, das Ziel des Lebens sollte sein, es zu genießen.
Sie spielen neben mehreren anderen Instrumenten vor allem Geige, singen, schreiben, komponieren, schauspielern, führen Regie und malen – ist es vielleicht auch diese Vielfalt an Künsten, die Sie wach halten?
Ich hatte vor kurzem nach dem Konzert irgendwo in einer Kneipe ein Gespräch mit einem Arzt bei einem Whisky. Er empfiehlt seinen Klienten, mit dem Älterwerden mehr zu tun. Das Gehirn produziert so viele Stoffe, wenn man gewisse Stellen nicht mehr anspricht, wird immer weniger produziert. Daher sollte man all das tun, was einen aktiv hält. Angefangen beim Lesen, beim Umschlagen von Seiten, diese Neugierde erhalten, Antworten zu suchen auf Fragen, die dich interessieren. Es ist einfach mein Interesse und mein Spaß, alles verstehen zu wollen. In mancher Antwort steckt dann wieder eine neue Frage.
Ihre Konzertreihen sind bekannt dafür, dass sie den Besucher jedes Mal aufs Neue wieder überraschen. Dabei könnten Sie stofftechnisch aus dem Vollen schöpfen. Wie schwer fällt Ihnen die Auswahl an Inhalten für rund zwei Stunden Konzert?
Ich sehe das wie mit einem Tagebuch. Wir haben beispielsweise gestern gespielt und heute denke ich zwei, drei Stunden darüber nach, was mich beschäftigt und was ich heute Abend anders machen will. Weil mit der Erfahrung von heute kann ich nicht das spielen, was ich gestern gespielt habe. Ich war jetzt beispielsweise nach langer Zeit wieder in Deutschland, habe viele Sachen zum ersten Mal auf Deutsch gesungen, aber keine Erfahrung mit der Erwartungshaltung der Leute. Da wird viel überflüssig, weil viele Leute verstehen etwas schneller als ich dachte. Dann brauche ich die Sätze darauf nicht mehr. Oder die sehen schon viel früher, als ich für möglich gehalten habe, wohin das führt, dann muss ich mir einen Umweg ausdenken. Das geht mir schon seit fast 60 Jahren so. Es ist wie beim Wetter. Keinen Tag fällt der gleiche Regen.
Ihre Lieder und Texte haben oft eine spirituelle, philosophische oder humanistische Tiefe. Inwieweit wurden Sie religiös geprägt?
Mein Opa war Prediger. Ich habe vom Alten und Neue Testament als Kind sehr viel mitgekriegt. Diese Bücher sind tief in mir verwurzelt. Schon seit Kindeszeit fasziniert mich ein Buch der Bibel immer wieder, die Texte aus dem "Prediger". Sie begleiten mich eigentlich schon mein ganzes Leben lang. Wenn ich etwas nicht verstehe, gehe ich immer wieder zu diesem Buch und finde vernünftige Antworten auf die Fragen, die ich stelle. Es ist eigentlich ein Geschenk, dass ich von meinem Großvater gekriegt habe, dieses Buch kennengelernt zu haben, auf das ich mich immer wieder zurücklesen kann. Das Interessante an Religion ist das Rätsel Gott.
Eine ihrer bekanntesten Erzählungen ist die "Geschichte von Gott", in der Gott inkognito zu den Menschen kommt und sich über deren Kirchbau wundert. Am Ende setzt er sich zu einem "Männlein" auf eine Bank und nennt ihn "Kollege". Was bedeutet, Gott ist ein Mensch?
Gott sieht sich auf Augenhöhe mit den Menschen. Ich habe zu dem Thema einen neuen Text geschrieben: "Für alles was es gibt, gibt es eine Zeit, für alles was es gibt, gibt es einen Platz. Was es gibt, war schon immer da. Was kommen wird, ist immer schon gewesen. Der Wind, der dreht, alles Wasser will zum Meer, was getan wurde, wird wieder getan werden. Alles ist aus Staub entstanden und alles geht zurück zum Staub. Und weißt du was? Dagegen kannst du ganz und gar nichts tun. Du gehst, kommst, pflanzt, erntest, weinst, lachst, zerstörst, baust, trauerst, tanzt, verlierst, findest, beweist, wirst los. Du redest und du schweigst. Genieß es! Ich genieße es." Alles hat einen Grund, gehe also der Sache auf den Grund. Und dann bist du ziemlich beschäftigt.
Im neuen Gedicht "Achtzit" beschreiben Sie Ihre ersten Jahre mit den Worten "Geboren zwischen Bomben, aufgewachsen in einem jungen Frieden" und hoffen von Herzen, "dass dies kein Zwischenkriegszeit ist". Nun hat es in den acht Jahrzehnten ja immer Kriege gegeben. Was fühlt sich diesmal anders an?
Vor ein paar Wochen habe ich bei einer Feierstunde zum Holocaust-Gedenktag an einem Memorial gesungen. Dort habe ich einen fast 100 Jahre alten Mann getroffen, der mich wahnsinnig beeindruckt hat. Er erzählte vom Krieg und schlug eine Brücke geschlagen in unsere Zeit und eigentlich mir und den anderen Menschen, die zuhörten aufgetragen, etwas zu unternehmen, damit das nicht mehr passiert, was passiert ist. Diese ältere Herr hat gesagt: "Es fing nicht an mit Gaskammern. Es fing an mit Worten." Dazu habe ich wieder einen Text geschrieben: "Schweig nicht. Lass dich hören! Lass es nicht zu, dass Menschen ausgeschlossen werden. Kein Jude, kein Moslem, kein Schwuler, kein Zigeuner, kein Zeuge Jehovas, Buddhist, Baptist, Kommunist. Schweig nicht, lass dich hören! Lass es nicht zu, dass Menschen ausgeschlossen werden. Kein Sufi, kein Transgender, kein reformierter Mennonit, kein Kind, ein Senior, kein Flüchtling. Lass ausgeschlossen, werden ausgeschlossen sein.
Sie äußern sich ja nicht häufig politisch, haben eher die großen Linien im Auge. Aber wie gehen Sie mit dem Rechtsruck in Europa um?
Mit Texten, wie den eben genannten. Aber auch mit eher ungeplanten Aktionen. Ich hatte beispielsweise vergangenen Dezember spontan beschlossen, unter anderem in Deutschland Kirchenkonzerte zu geben. Eigentlich vor allem, um sich zu treffen und miteinander über verschiedene Sachen denken und plaudern können. Dabei fiel mir auf: Deutschland hat eigentlich buchstäblich zwei Vergangenheiten – eine östliche und eine westliche. Die Mauer kann verschwunden sein, aber im Gehirn steht noch viel davon. Und diese Missverständnisse sollten mit Ruhe, Liebe und Respekt miteinander beplaudert werden. Dann sieht man in Holland wie in Deutschland, dass das möglich ist.
Was denken Sie, woran liegt diese Geschichtsvergessenheit?
Durch diesen Mangel an Lehrern, wir haben viel zu wenige. Ich war ein Montessori-Kind, und für alle Fächer hatte ich individuell einen Lehrer. In unserer heutigen Zeit gibt es einfach viel zu wenig Zeit und Geld, um beispielsweise Geschichtsunterricht zu erhalten. Wir haben jetzt ein paar Generationen, die eigentlich viel zu wenig wissen von ihrer eigenen Vergangenheit, ob das in Deutschland ist oder in Holland. Wenn man nicht weiß, was in den 1930er-Jahren abgespielt hat, wie soll man dann erkennen, dass vieles von dem, was heute in unserer Zeit passiert, zu tun hat mit dem System dieser Jahre? Wenn ich mir dann diese rechten Parteien anschaue, die sich hinstellen und sagen "wir sind die Zukunft", dann sag ich "nein, ihr seid die Vergangenheit". Eine wichtige Aufgabe ist, zu erzählen, wie es war. So gut, wie es angeblich früher war, ist es früher nie gewesen. Und dann komm ich wieder zum Buch der "Prediger". Dieses Modell der Wiederholung von Wissen wird darin unvorstellbar gut vermittelt.
Als Künstler, der sich in mehreren Sprachen ausdrückt – über welche Hürden stolpern Sie immer noch?
Wenn ich Holländisch spreche, habe ich einen reichen Vorrat an Synonymen. Ich kann ein Wort in einem ganzen Verbund sehen. Diese Möglichkeit habe ich in anderen Sprache nicht. Holländische Sprache in andere Sprachen zu übersetzen, ist für mich immer dünnes Eis. Wir sprechen in Wasserthermen in Holland. Alles wird verglichen, mit Wolken mit Wasser und mit Luft mit Gras und so weiter. Da kenne ich mich voll aus. Ich weiß, woher ein Wort stammt, wie es benutzt wird. Wird das dann umgekehrt in eine andere Sprache, tue ich mir schwer. Das Publikum versteht immer mehr von einem Wort als ich. Und das macht es spannend, mich verletzlich, das kann ab und zu aber auch unwahrscheinlich komisch sein. Nehmen Sie das Wort deftig. Auf Holländisch bedeutet das "schick" oder "elegant". Wenn ich sage, "das ist eine deftige Frau" meine ich eigentlich eine elegante Frau.
Herman van Veen kommt am 24. Mai in die Münchener Isarphilharmonie und am 25. Mai in die Nürnberger Meistersingerhalle.

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