So etwas hat Lukas Mas-Zehetbauer in seinem Berufsleben noch nicht erlebt. "Wir haben immer wieder mal Kampfmittelfunde auf unseren Baustellen", berichtet der Projektleiter für die Sanierung des Großhesseloher Isar-Wehrs südlich von München im epd-Gespräch. Aber dass der Langstielbagger beim Aushub aus zwei bis acht Metern Tiefe die Gesetzestafel einer Synagoge mit den Zehn Geboten in hebräischer Schrift zutage fördert, das gibt es nicht alle Tage. "Das kam an dieser Stelle mitten im Fluss komplett unerwartet", sagt der Mitarbeiter der Stadtwerke München (SWM).

Fund gleicht einer Sensation nach 85 Jahren

Am 9. Juni 1938 wurde die Münchner Hauptsynagoge im Herzen der Stadt auf persönlichen Befehl Adolf Hitlers abgerissen. Es ist tatsächlich eine Sensation, dass genau 85 Jahre später eine ganze Reihe kunstvoll mit Blüten und Ornamenten verzierter Steine auftauchen, die sich dank alter Fotos zweifelsfrei dem jüdischen Gotteshaus zuordnen lassen.

Bislang habe man nur etwa ein Kilo Synagogen-Steine besessen, die ein Münchner Jude bei seiner Flucht vor den Nationalsozialisten als Erinnerung mit in die USA genommen habe, erzählt Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museum München (JMM) im epd-Gespräch.

"Jetzt haben wir plötzlich 150 Tonnen Material – das ist ein beachtlicher Fund, damit hat niemand gerechnet", sagt der Kulturwissenschaftler.

"Würdeloser Umgang" mit den Steinen nach Abriss der Synagoge

Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern, zeigte sich überrascht:

"Als die Nachricht von der Entdeckung der Steine uns erreichte, habe ich zuerst meinen Ohren nicht getraut",

sagte die 90-Jährige dem epd. Niemals habe sie damit gerechnet, dass heute noch Fragmente erhalten sein könnten. Zugleich sei man in der jüdischen Gemeinde entsetzt gewesen, "wie würdelos mit diesen Steinen nach 1938 umgegangen worden war", betonte Knobloch, die die alte Hauptsynagoge noch aus Kindertagen kennt.

Klar ist bislang, dass die Baufirma Leonhard Moll, die 1938 mit dem Abbruch der Synagoge beauftragt war, die sakralen Überreste zusammen mit anderem Bauschutt 1956 am Großhesseloher Wehr verbaut hat. Die Wehranlage von 1908, mittlerweile selbst in die Denkmalliste aufgenommen, war nach dem Hochwasser von 1954 reparaturbedürftig. "Es gab große Ausspülungen, die verfüllt und gesichert werden mussten", erklärt der Fachmann Mas-Zehetbauer. Dafür wurden unter anderem die Steine der Hauptsynagoge benutzt.

Gefundene Gesetzestafel mit Zehn Geboten ist sehr gut erhalten

Den aufmerksamen Bauarbeitern und dem Team der Baumaßnahme ist es zu verdanken, dass der Fund jetzt fachgerecht von Experten des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege gesichert und untersucht werden kann. Man unterstütze derzeit die Identifizierung und Zuordnung der geborgenen Einzelteile, sagte eine Sprecherin des Landesamts auf epd-Anfrage. "Die Fundstücke werden auf einem geeigneten Lagerplatz zur weiteren Aufnahme, Dokumentation und Zuordnung zwischengelagert", hieß es.

Besondere Symbolkraft hat für JMM-Direktor Purin die sehr gut erhaltene Gesetzestafel mit den Zehn Geboten in hebräischer Schrift, die einst über dem Tora-Schrein der Synagoge hing. Er hofft, dass womöglich auch Stücke des Schreins selbst in den Trümmern gefunden werden. "Aber bis wir Klarheit haben, werden Monate vergehen." Wie es danach mit den historischen Steinen weitergeht, ist noch offen. Sollte sich der alte Tora-Schrein zumindest teilweise rekonstruieren lassen, wäre der geeignete Platz dafür im Vorraum der heutigen Hauptsynagoge am Jakobsplatz, meint Purin. Für das Jüdische Museum kann er sich eine Ausstellung zur Fund-Geschichte vorstellen.

Charlotte Knobloch ist fürs Erste einfach nur froh. Die gefundenen Überreste der alten Hauptsynagoge seien "ein einzigartiges Relikt" aus der Geschichte der Kultusgemeinde.

"Ich freue mich darauf, dass sie in der einen oder anderen Form in unsere Gemeinde zurückkehren", so die IKG-Präsidentin. 

Alte Hauptsynagoge München

Die alte Münchner Hauptsynagoge in München wurde zwischen 1884 und 1887 im Stadtzentrum nahe des Karlstors erbaut. Die Pläne zu dem Monumentalbau im neuromanischen Stil stammten von Albert Schmidt, der später auch die evangelische Lukaskirche, den „Dom der Münchner Protestanten“, erbaute.

Grund für den Neubau war das starke Wachstum der jüdischen Gemeinde. Weil der bayerische Landtag 1861 das „Judenedikt“ von 1813 aufgehoben hatte und es somit keine Beschränkung der Gewerbefreiheit mehr gab, zogen viele Jüdinnen und Juden nach München.

Nachdem es zunächst Unstimmigkeiten über den Standort der geplanten Synagoge gegeben hatte, sorgte König Ludwig II. dafür, dass die jüdische Gemeinde das Grundstück an der Herzog-Max-Straße für 300.000 Mark kaufen konnte. Grundsteinlegung war im Frühjahr 1883. Die Einweihung erfolgte am 16. September 1887 im Beisein zahlreicher politischer Vertreter.

Als eine von zwei deutschen Synagogen wurde die Hauptsynagoge München schon am 9. Juni 1938, genau fünf Monate vor der Reichspogromnacht, auf persönlichen Befehl von Adolf Hitler abgerissen. Zuvor musste die Gemeinde das Grundstück für 100.000 Reichsmark an die Stadt abtreten. Auf dem Gelände wurde anschließend ein Parkplatz errichtet. Seit 1969 erinnert ein Gedenkstein an das jüdische Gotteshaus.

Mit dem Abbruch der Münchner Hauptsynagoge war die Baufirma Leonhard Moll beauftragt. Sie lagerte den Bauschutt zunächst auf einem Gelände im Münchner Westen und verwendete Teile davon offensichtlich 1956 bei den Reparaturarbeiten des Großhesseloher Isar-Wehrs. 

 

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden