Er heißt Adam, aber im Paradies lebt er nicht. Adam (Taufik Barhom) ist der Sohn eines einfachen Fischers am Manzala-See im Nildelta. Seine Mutter ist tot, der fromme, strenge Vater züchtigt seine drei Söhne regelmäßig. Nur der Dorf-Imam fördert den klugen Adam. Doch als Adam von der berühmten Al-Azhar-Universität in Kairo ein Stipendium erhält, wartet dort nicht das erträumte Paradies gläubiger Gelehrsamkeit auf ihn, sondern ein Abgrund aus Mord und Intrigen. So beginnt "Die Kairoverschwörung" des schwedisch-ägyptischen Filmemachers Tarik Saleh, der für sein Drehbuch bei den letzten Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme erhalten hat.

"Ist es gefährlich?"

Den Anstoß zu seinem sehenswerten Islam- und Politthriller habe er erhalten, nachdem er "mal wieder Umberto Ecos in einem Kloster spielenden Mittelalter-Thriller ›Der Name der Rose‹" gelesen habe, hat der 1972 in Stockholm geborene Regisseur bekannt. Der vor fast 40 Jahren mit Sean Connery verfilmte Roman kreist als Kriminalfall um den erbitterten Gegensatz zwischen Vernunft, Wahrheit und religiöser Doktrin. "Was wäre, wenn ich eine solche Geschichte erzählen würde, aber in einem muslimischen Kontext?", habe er sich gefragt, "Wäre das möglich? Wäre es mir erlaubt? Ist es gefährlich? Das war ein Gefühl ähnlich dem, wenn man als Kind mit dem Feuer spielt. Als ich anfing, diesem Gedanken nachzugehen, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich konnte es nicht nur tun, ich musste es einfach tun", sagt Saleh.

"Boy from Heaven" (oder vielmehr "Walad min al-Dschanna", Kind des Paradieses) lautet der Originaltitel seines Films, was dessen erzählerischer Idee näher kommt als die etwas reißerische Überschrift "Die Kairo-Verschwörung".

Wie in der Bibel ist auch im Koran Adam der aus dem Paradies vertriebene Vater der Menschheit. Adson heißt der religiöse Novize in der "Name der Rose", Adam ist es in der "Kairo-Verschwörung". Was sie verbindet, ist ihre wache Klugheit und ihr kindlich-reines Herz, der naive, aber scharfe Blick auf die Abgründe der religiösen Welt, in die sie sich hineingeworfen finden. Doch einen weisen Führer wie William von Baskerville, mit dem Adson durch seine mörderische Geschichte findet, hat Adam in der Azhar-Universität nicht. Im Gegenteil: Sein "Führer" ist Ibrahim, ein undurchsichtiger und brutaler Offizier der Staatssicherheit. Ihn spielt der großartige Fares Fares, der in Salehs Filmen öfter zu sehen ist.

Tarik Saleh ist Sohn einer schwedischen Mutter und eines ägyptischen Vaters. In Ägypten ist er schon länger Persona non grata. Bereits mit seinem vorletzten Film, dem im arabischen Frühling angesiedelten Thriller "Die Nile Hilton Affäre" (2017), ist Saleh dem Regime auf die Füße getreten. Gedreht werden konnte daher nicht in Ägypten. Die Rolle der ehrwürdigen Azhar-Universität muss die prächtige Süleymaniye-Moschee in Istanbul spielen. Salehs Geschichte ist auch vom Leben seines Großvaters inspiriert, der – aus einfachen Verhältnissen stammend – als Erster seines kleinen Dorfs an der angesehensten Universität der muslimischen Welt studierte.

Adam ist gerade an der Azhar angekommen, da stirbt der Groß­imam der Universität. Der Chef der Staatssicherheit versammelt seine höchsten Offiziere und erklärt:

"Der Großimam ist tot, deswegen müssen wir sicherstellen, dass die Person, die ihn ersetzen wird, unsere Vorstellungen teilt."

Adam wird von Ibrahim zu Spitzeldiensten für die ägyptische ­Stasi erpresst. Er wird Zeuge eines Mordes, gerät zwischen die Fronten der religiösen und politischen Machthaber Ägyptens – und selbst in Lebensgefahr.

Im Jahr 972 gegründet, hat die Al-Azhar-Universität heute rund 300 000 Studenten, 3000 Professoren und nicht mehr ausschließlich islamisch-theologische Fakultäten; aber noch immer ist der Großimam der Azhar wie seit Jahrhunderten für viele Muslime so etwas wie der Papst für die katholische Kirche: die höchste Autorität im sunnitischen Islam. Seine Rechtsgutachten, sogenannte Fatwas, haben enormen Einfluss. Kein weltlicher Führer Ägyptens kann gegen die religiösen "Empfehlungen" des Groß­imams der Kairoer Al-Azhar regieren.

Großimam der "echten" ­Azhar ist seit 2010 Scheich Ahmed al-Tayyeb, der auch in Paris an der Sorbonne studiert hat. Jüngst sorgte er mit einem Vorstoß zur vorsichtigen Änderung des islamischen Erbrechts zugunsten von Frauen für Aufmerksamkeit. 2017 war er Gast des Kirchentags. Er gilt als "Sprachrohr des Regimes" und als Terrorgegner – außer wenn es um Israel geht. Immer wieder hat sich Ahmed al-Tayyeb hart judenfeindlich geäußert. Ins Amt gekommen ist er durch den 2011 gestürzten "Pharao" Hosni Mubarak; Ägyptens heutigen Präsidenten Abdel Fattah as-Sisi unterstützte er nach dessen Volksputsch gegen die Muslimbrüder von Anfang an. Im Film wird Sisi nie erwähnt, doch das Porträt des Präsidenten ist allgegenwärtig.

Sisis Bestrebungen, seiner Diktatur einen koranischen Segen zu verleihen, hat sich Großimam Al-Tayyeb jedoch geschickt entzogen. Der Imam habe weltweit an Popularität gewonnen, sagt Regisseur Saleh, als er sich dem Machthaber entgegenstellte, den niemand herauszufordern wagte. "Der Konflikt, den ich mir in meinem Drehbuch ausgemalt habe, fand also auch im wirklichen Leben statt." Wie in "Der Name der Rose" geht es auch in "Die Kairo-Verschwörung" um verbotene Bücher und die Angst vor der subversiven Kraft der Wahrheit.

"Schmückt den Koran mit euren Stimmen", soll der Prophet Mohammed gesagt haben. "Rezitiere den Koran in langsamen, gemessenen, rhythmischen Tönen", heißt es in der 73. Koransure (Al-Muzzamil, Vers 4).

Der Film zeigt, welche Schönheit, welche Faszination vom geschulten Koran-Vortrag ausgehen kann. Doch wir lernen auch, wie umstritten die Kunst des "­Taghanni", der melodischen Koran­lesung, ist.

Die Staatssicherheit nötigt Adam, sich einer besonders frommen Gruppe anzunähern, die sich sogar nachts zum Beten trifft ("Das Gebet ist besser als der Schlaf"). Als Adam hier erstmals rezitiert, zischt einer aus der Gruppe wütend: "Singen! Singen! Er singt!" Salafisten sind auch an diesem Punkt strenger als andere muslimische Strömungen.

Die Gruppe folgt den Ideen von Sayyid Qutb (1906-1966). Der Ägypter war einer der einflussreichsten Theoretiker der Muslimbrüder und ideologischen Vordenker des salafistischen Dschihadismus, der sich in Bewegungen wie Al-Qaida oder dem "Islamischen Staat" blutig verwirklichte. Seine Bücher sind im Ägypten Sisis verboten und aus den Moschee-Büchereien verbannt. Gelesen werden sie dort trotzdem. Auch "weil es Bücher sind, die die Mächtigen erzittern lassen", wie im Film der Al-Azhar-Student Adam sagt.

Vertreibung aus dem Paradies

Im streng-kühlen Innenhof der Universität versammeln die Professoren ihre Studenten um sich zur Vorlesung. Wie auf einem Schachbrett stehen sich die verschiedenen Strömungen des Islams gegenüber. Viele islamisch-theologische Feinheiten, auf die der Film anspielt, aber nicht erklärt, dürften europäischen Zuschauern entgehen. So mag der Film auf manche einen Zug zu langatmig wirken. Als albtraumartiger "Spio­nagethriller" funktioniert er dennoch hervorragend.

Auch die Geheimpolizisten und der jedenfalls grundsätzlich liquidierungsbereite Minister halten fromm ihre Gebetszeiten ein. Dann bringt das lügenhafte Mordgeständnis eines Imams die staatliche Macht nahe an den Offenbarungseid. Und Adam fängt an, das System der Mächtigen – jener der Religion und jener des Staats – zu verstehen.

"Banu Adam" ist der arabische Begriff für "Menschheit". Mit seinem Genre-Thriller um den muslimischen Religionsschüler Adam erzählt Saleh zugleich eine Parabel über den Glauben und die Wahrheit, die Macht und die Lüge.

Tarik Saleh wollte dabei, wie er betont, keine Erzählung "gegen den Islam" schaffen. Sein Film zeigt deutlich seine Liebe zu den Geschichten und Klängen dieser Welt, zur Schönheit des Koran. Doch wo Jesus und die frühe Christenheit zwischen der Sphäre der weltlichen Macht und der Gottesherrschaft trennten, trennen mussten, hat der Prophet Mohammed von Anbeginn ein anderes Projekt verfolgt: Bewusst, gewissermaßen pragmatisch und vernünftig wollte er die Sphäre des Diesseits, der Gesellschaft und der Macht mit der Sphäre der Religion in Übereinstimmung bringen. Von Anfang an hat sich der Islam als "politische Religion" verstanden. Auch deswegen tut sich die islamische Welt mit einer Trennung dieser beiden Sphären nach dem westlichen, "post-kirchlichen" Muster seit der Aufklärung so schwer.

Im Grunde ist es diese unentwirrbare Realität, die Salehs Film zeigt und auf die der Held mit dem reinen Herzen prallt. Am Ende kehrt der Fischersohn zurück nach Manzala. Adam hat seine religiöse Kleidung abgelegt und sitzt wieder im Boot mit seinem Vater – ein Vertriebener aus dem vermeintlichen Paradies des Glaubens und des Wissens. Denn wo die befriedende Trennung von Religion und Staat nicht möglich ist, bleibt für den wahren Gläubigen nur noch eins: der Abschied von der Religion

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