Den "Videobeweis" gibt es inzwischen auch im Bayerischen Landtag. Seinen Nutzen für geordnete Debatten erläutert Landtagspräsidentin Ilse Aigner im exklusiven Sonntagsblatt-Interview. Durch die AfD sei der Ton im Parlament, der Herzkammer der Demokratie, rauer geworden, sagt Aigner. Die etablierten Parteien sollten souveräner mit der AfD umgehen. Im Interview spricht die CSU-Politikerin über Frauen in Politik und katholischer Kirche. Und sie verrät, was sie während einer Auszeit machen würde.

 

Was hätten Sie getan, wenn Sie nicht in Bayern, sondern in Thüringen Landtagspräsidentin gewesen wären. Wäre die Wahl des Ministerpräsidenten dann anders gelaufen?

Aigner: Weil bei der Wahl alles ordnungsgemäß ablief, hätte ein Landtagspräsident den Wahlgang nicht unterbrechen können. Ein schwerer Fehler war dann aber, dass Kemmerich die Wahl zum Ministerpräsidenten angenommen hat. Ein Landtagspräsident sorgt für einen reibungslosen Ablauf einer Plenarsitzung und auch dafür, dass niemand persönlich angegriffen oder beleidigt wird. Im Bayerischen Landtag haben wir dafür seit einiger Zeit einen "Videobeweis", weil man - vor allem, wenn es eine lautstarke Debatte ist - nur so genau feststellen kann, von wem eine zu rügende Äußerung kam.

Der Ton, die Wortwahl und die Art des Umgangs sind mir sehr wichtig, weil Abgeordnete unbedingt Vorbilder sein müssen. Das Parlament ist ja schließlich die Herzkammer der Demokratie.

Der Umgang in der Herzkammer wird aber zunehmend rauer.

Aigner: Die Debatten sind schärfer geworden, was vornehmlich mit dem Einzug der AfD zu tun hat. Das sehe ich als eine große Herausforderung - und zwar für uns alle. Dabei würde ich mir sehr wünschen, dass die Parteien, die schon länger im Parlament sind, mit dieser Situation souveräner umgehen, den Maßstab an sich selbst hochlegen, sich nicht provozieren lassen, so keine Angriffsflächen bieten und auch nicht über jedes Stöckchen springen.

Hat die Verschärfung des Tons auch mit der wachsenden Digitalisierung zu tun?

Aigner: Eindeutig. Vor allem die sozialen Netzwerke haben die Politik massiv verändert. Die Geschwindigkeit der Informationen und Stellungnahmen hat rasant zugenommen, was fundierte Entscheidungen schwieriger macht. Die Vertraulichkeit von Sitzungen ist praktisch aufgehoben, Politiker können deshalb vor einer Entscheidung weniger offen reden oder auch mal laut quer denken. Durch den Deckmantel der Anonymität im Netz werden sie in einer nie dagewesenen Weise verunglimpft. Diese Auswüchse müssen entschieden eingedämmt werden, weil sie die Demokratie als Ganzes gefährden.

Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm hat nach den gehäuften Politiker-Rücktritten die Sorge geäußert, dass sich nur noch abgebrühte Politiker an der Spitze halten können.

Aigner:

Generell braucht jeder in der Politik ein dickes Fell, weil man da schon so einiges durchstehen muss. Die Belastungen sind inzwischen äußerst massiv. Wenn eine durchaus robuste Persönlichkeit und Politikerin wie Andrea Nahles zurücktritt, sagt das einiges aus.

Annegret Kramp-Karrenbauer kenne ich gut und schätze sie sehr als kluge Frau und Politikerin. Nach der Thüringer Wahl wurde aber das Umfeld vor allem durch das von der Parteilinie abweichende Verhalten des thüringischen Landesverbandes zunehmend schwieriger, was dann zu ihrem Schritt geführt hat.

Wer wird Ihrer Prognose nach neuer Parteivorsitzender?

Aigner: Am besten wäre, wenn sich Friedrich Merz, Jens Spahn und Armin Laschet einigen würden - und dazu brauchen sie keine Ratschläge von der Schwesterpartei. Alle sind gute Politiker - jeder mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Nachdem alle aus Nordrhein-Westfalen kommen, wird wohl nicht die Frage nach der regionalen Herkunft eine Rolle spielen.

Nach dem Rücktritt von Horst Seehofer waren Sie selbst in die Auseinandersetzung um den Parteivorsitz involviert. Wie sehen Sie das in der Rückschau?

Aigner: Es war gut, dass wir uns letztlich geeinigt haben. Markus Söder ist eine starke Führungsfigur und macht wirklich eine gute Arbeit als Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender. Wir beide haben eine ideale Aufstellung gefunden.

Sie sind also als Politikerin mit sich im Reinen?

Aigner: Absolut! Mein Amt als Landtagspräsidentin macht mir richtig viel Freude und ich erfülle es mit großer innerer Überzeugung. Dabei kommt mir sicherlich zugute, dass mir als Person statt Ab- und Ausgrenzung immer ein Miteinander wichtig war. Als Ministerin habe ich stets mit den Oppositionsparteien auf der Sachebene konstruktiv zusammengearbeitet. Außerdem kann ich in nicht ganz so einfachen Zeiten an der Spitze des Parlaments zur Bewahrung und Stärkung der Demokratie beitragen, was mir ein echtes Herzensanliegen ist.

Durch welche Entwicklungen sehen Sie denn die Demokratie gefährdet?

Aigner: Wir erleben gerade eine Zersplitterung der Parteienlandschaft und auch eine Veränderung in den großen Volksparteien, die ein stabilisierender Faktor der Demokratie waren und weiterhin sein sollten. Werden die politischen Ränder stärker, kommt es zu Spannungen in der Mitte. Und ich sehe auch eine zunehmende Kluft zwischen Stadt- und ländlich-kleinstädtischer Bevölkerung. Deshalb fällt es den Volksparteien im Gegensatz zu früher schwerer, alle Erwartungen abzudecken. Das sieht man wie in einem Brennglas in Oberbayern, meinem eigenen CSU-Bezirk. Die Erwartungen der Menschen in den Landkreisen Bad Tölz, Miesbach oder Berchtesgaden unterscheiden sich ziemlich von denen im Landkreis München.

Ich bin aber davon überzeugt, dass wir keine Krise der Demokratie haben. Trotz des Bebens, das von Thüringen ausging und sicher auch einen immens großen Schaden verursacht hat, funktionieren unsere demokratischen Strukturen und unsere rechtsstaatlichen Institutionen außerordentlich gut.

Richtig ist allerdings auch, dass unsere parlamentarisch-demokratische Staatsform in den neuen Bundesländern weniger stark verwurzelt ist und weniger Vertrauen genießt.

Das hat mehrere Gründe. Zum einen wurde die SED-Vergangenheit offenbar nicht vollständig aufgearbeitet. Und auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus/ Rechtsextremismus unterschied sich in der DDR grundlegend von der Erinnerungskultur in der alten Bundesrepublik. Hinzu kommt auch eine westdeutsche Arroganz und Dominanz, die zu Trotzreaktionen führt. Doch bei allen offensichtlichen Problemen, die unser politisches System beschäftigen, halte ich jedoch historische Vergleiche, etwa zur Weimarer Republik, für derzeit völlig abwegig.

Sollte nicht trotzdem das demokratische System geändert werden, etwa durch andere Formen der Abstimmung im Netz und Beteiligung der Bürger.

Aigner: Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Denn gerade in Bayern haben wir auf der kommunalen und der Landesebene sehr viele Möglichkeiten der Volksbeteiligung, die auch intensiv genutzt werden. Allerdings müssen sich die Menschen dann auch intensiv mit komplexen Sachverhalten auseinandersetzen.

Das umfangreiche Volksbegehren "Rettet die Bienen" haben wahrscheinlich nur wenige wirklich ganz gelesen. Das Volksbegehren ist übrigens - und jetzt spricht die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin - der Grund für die tiefe Verunsicherung unserer Bauern. Heftige Proteste aus der Landwirtschaft gab es schon immer. Ich erinnere mich noch gut, wie wir bei einer Konferenz der Landwirtschaftsminister vor aufgebrachten Bauern, die gegen die Milchpreise protestierten, buchstäblich durch einen Hinterausgang fliehen mussten. Jetzt haben die Bauern allerdings das Gefühl, für jede Fehlentwicklung und jedes Problem herhalten zu müssen. Das haben sie wirklich nicht verdient - da müssen wir gegensteuern.

CSU-Politikerin Ilse Aigner über Frauen in der Politik.

Was die Politikerin Ilse Aigner über Glauben und Kirche denkt

Was würden sie tun, wenn durch eine Verordnung alle Landtagspräsidenten ein Jahr Auszeit nehmen müssten?

Aigner: Ich würde eine Alpenüberquerung machen, zu Fuß, von Hütte zu Hütte. Die Natur genießen oder Städte anschauen, mehr Sport treiben und das alles ohne Zeitdruck. Ich könnte mir auch vorstellen, dass ich mich in Organisationen engagiere, die mit Menschen zu tun haben, wie etwa dem Roten Kreuz, oder der katholischen Kirche, in der ich sehr verwurzelt bin.

Wären Sie da bei Maria 2.0?

Aigner: Tendenziell ja, es geht dabei um die Zukunft meiner Kirche. Denn die Frauen leisten unglaublich viel, beispielsweise in der Firmungs- und Kommunionsarbeit.

Es gibt kaum Aktivitäten in den Gemeinden, die ohne das Engagement der Frauen stattfinden könnten. Die Frauen tragen in den Familien den Glauben in die nächsten Generationen hinein. Deshalb müssen sie in der Kirche als gleichberechtigt akzeptiert werden. Eine gute Möglichkeit dafür wäre die Weihe zu Diakoninnen.

Die Frauenquote in der Politik, insbesondere im Bayerischen Landtag, ist aber auch nicht gerade berauschend.

Aigner: Das stimmt leider. Deshalb werbe ich unermüdlich bei der anstehenden Kommunalwahl dafür, dass Frauen kandidieren und auch gewählt werden. Und zwar nicht nur in Stadt- oder Gemeinderäte, sondern auch als Bürgermeisterinnen, Oberbürgermeisterinnen und Landrätinnen, was dann wiederum Vorbildcharakter haben könnte. Als Grund für die politische Zurückhaltung der Frauen sehe ich auch, dass sich vor allem Frauen weder Hass-Mails noch bedrohenden Postings in sozialen Netzwerken aussetzen wollen.

Außerdem sind die Erwartungshaltungen an Frauen und Männer immer noch unterschiedlich, wie ich selbst früher erlebt habe. Als ich in sehr jungen Jahren für ein Bürgermeister-Amt kandidiert habe, wurden mir meine "ungeklärten Familienverhältnisse" vorgehalten. Bei einem Mann hingegen hätten weder der Familienstand und das noch junge Alter eine Rolle gespielt. Ich habe das damals sportlich gesehen, was ich auch allen anderen Frauen raten würde.