Am 21. November 2013 verkündete die ukrainische Regierung unter Präsident Wiktor Janukowitsch, das lange vorbereitete Völkerrechts- und Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen - gegen diese Entscheidung versammelten sich noch in derselben Nacht Regierungskritiker und pro-europäische Bürger auf dem "Majdan Nesaleschnosti", dem Platz der Unabhängigkeit, in Kiew. Jürgen Wertheimer, der bis 2015 an der Uni Tübingen Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik gelehrt hat, geht in seiner Publikation "Maidan, Tahrir, Taksim. Die Sprache der Plätze" auf die Dynamik von Bürgerprotesten und die Bedeutung öffentlicher Versammlungsorte ein.

 

Herr Wertheimer, wieso hat die Protestbewegung in der Ukraine den Maidan in Kiew gewählt?

Wertheimer: Kiew ist ein historischer Symbolort. Einerseits als Keimzelle Russlands, von dessen Vorläufer "Rus" sie im Mittelalter das Zentrum war. Andererseits war der Maidan im Lauf seiner extrem wechselhaften Geschichte immer auch ein Ort der Abgrenzung für die Ukraine und ihre Anlehnung an den Westen. Ihn zu besetzen heißt, die Ukraine zu besitzen, zumindest symbolisch. Seine Botschaft lautet: Hier sind wir! Und die Säule in seiner Mitte ist eine Art ideologischer Totempfahl ukrainischer Identität.

Können Sie die Atmosphäre auf einem besetzten Platz und insbesondere auf dem Maidan vor fünf Jahren beschreiben?

Wertheimer: Die Besetzung eines urbanen Territoriums auf Zeit durch eine große Menschenmasse ist keine übliche Demonstration. Sie ist eine Kriegserklärung an das System und wird auch als solche verstanden. Darum ist der Platz ein Miniaturkrieg mit all seinen Risiken. Es kommt zu Übergriffen jeglicher Art und Rivalitäten der verschiedenen Gruppen auf dem Platz. Zugleich fanden auf dem Maidan Menschen zueinander und wurden Teil von etwas Größerem. Eine wahnsinnige Erfahrung, vielleicht auch eine gefährliche Illusion. Wenn schon - endlich war der Bann des Schweigens gebrochen, sie redeten miteinander, man redete über sie, verhandelte mit ihnen.

Was war das Ziel der Menschen auf den von Ihnen untersuchten Plätzen?

Wertheimer: Sowohl auf dem Tahrir und Taksim als auch auf dem Maidan war es ein Appell an Europa, Position zu beziehen. Und in allen drei Fällen hat Europa nicht Farbe bekannt. Außer Stippvisiten weniger Politiker passierte nichts. Es ist kein Zufall, dass die Protestbewegungen für Europa am Rande stattfanden. Wir führen diesen Kampf längst nicht mit der gleichen Leidenschaft, wir lassen kämpfen. Sicher waren die Proteste aber auch ein Versuch, sich eine Stimme zu verschaffen, sich als politische Wesen zu präsentieren, ein Menschenrecht einzulösen.

Was ist entscheidend für den Erfolg einer Platzbesetzung?

Wertheimer: Das wohl Wichtigste ist die Grundstimmung in weiten Teilen der Bevölkerung. Die innere Bereitschaft, sich aktivieren zu lassen, ist nur ganz bedingt künstlich erzeugbar. Materiell wie psychisch muss die Notlage der Menschen groß sein. So groß, dass das Risiko willentlich in Kauf genommen wird, sich auf einen solch riskanten und folgenreichen Prozess einzulassen - und unter Umständen einen hohen Preis dafür zu bezahlen, wie etwa den Arbeitsplatz zu verlieren.

Besteht die Möglichkeit, Bewegungen wie den "Euromaidan" wieder zum Leben zu erwecken?

Wertheimer: Auf dem Platz ist etwas zum Ausbruch gekommen, was einen Teil der Menschen im Land sehr beschäftigt. Und dieser Prozess ist noch voll am Laufen. Vorerst flammen nur immer wieder kleine Feuer auf, die von den Machthabern sofort erstickt werden. Trotzdem werden Plätze wie Tahrir, Taksim oder Maidan Symbolorte bleiben. Mehr noch, sie sind Räume für eine Geschichte, die möglicherweise erst beginnt. Denn auch nachdem sie saubergemacht sind, tragen sie die immateriellen Spuren des Widerstands. Oberflächlich mag man sie wegwischen, aber das kollektive Gedächtnis bewahrt alles auf, und unter bestimmten Umständen kann so ein Platz wieder zum politischen Leben erwachen.