Seit März 2011 ist Michael Bammessel Präsident und erster Vorsitzender des Vorstands des Diakonischen Werkes Bayern. Ende März geht der evangelische Pfarrer nun in den Ruhestand, erstmals übernimmt mit Pfarrerin Sabine Weingärtner eine Frau das Präsidentenamt des evangelischen Sozialverbands. Bammessel hat mit dem Evangelischen Presseverband für Bayern über die künftigen Herausforderungen für die Diakonie gesprochen - und ein Fazit seiner Amtszeit gezogen.

Herr Bammessel, Ende März gehen Sie in den Ruhestand. Für ihre künftige Zeit als Diakoniepräsident a.D. haben Sie sicher schon einige tolle Angebote für Aufsichtsratsposten und dergleichen, damit Ihnen nicht langweilig wird, oder?

Bammessel: Ehrlich gesagt ist mein Bedarf an Gremiensitzungen durch mein Berufsleben sehr gut gedeckt – ich bin nicht besonders erpicht darauf, im Ruhestand in möglichst vielen Gremien zu sitzen. Allerdings möchte ich mich verstärkt für den Windsbacher Knabenchor engagieren, der nicht zuletzt wegen der Corona-Epidemie mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Er liegt mir sehr am Herzen. Mein Sohn hat dort jahrelang gesungen. Ansonsten habe ich vor, mich aus allen Gremien, soweit sie nicht ohnehin an meine jetzige Stelle gebunden sind, sukzessive in den nächsten ein bis eineinhalb Jahren zurückzuziehen.

Das heißt, an dem im Gerücht, Sie wollen sich ehrenamtlich beim neuen Diakoniemuseum in Rummelsberg mit einbringen, ist nichts dran?

Bammessel: Das ist mir jetzt in der Tat neu und eine interessante Information (lacht). Da gab es weder eine konkrete Anfrage, noch eine Zusage. Wobei ich sagen möchte, dass ich die Arbeit von Thomas Greif als Museumsgründer und -leiter in Rummelsberg sehr schätze – ich finde es bewundernswert, was er da auf den Weg gebracht hat. Kurzum: Eine emotionale Unterstützung für das Museum ist gegeben, konkrete Pläne meinerseits oder Anfragen gibt es aber nicht.

Werfen wir den Blick mal auf die Gegenwart: Zuletzt gab es ja einigen Wirbel um die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Zuerst schien die Diakonie dafür, dann wieder dagegen…

Bammessel: Nein, das stimmt so nicht. Die ursprüngliche Idee der einrichtungsbezogenen Impfpflicht war ja, dass sie Teil eines Stufenplans ist und ihr zeitnah auch eine allgemeine Impfpflicht folgt. So hätten es viele in der Diakonie mitgetragen. Doch die allgemeine Impfpflicht ist ja in weite Ferne gerückt - und allein eine einrichtungsbezogene Impfpflicht hätte wieder eine Diskriminierung in den Einrichtungen zur Folge gehabt: Auf der einen Seite Besucher und Bewohner, die sich nicht impfen lassen müssen, auf der anderen Seite unser Personal, das sich impfen lassen müsste. Das hat bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für großen Unmut gesorgt - gerade, weil sie in der Pandemie so gute und belastende Arbeit geleistet haben. Letzten Endes würde es sicher auch dazu führen, dass einige den Job aufgeben. Und das können wir uns angesichts des Pflegemangels schlicht nicht leisten.

"Selbst in Einrichtungen mit hohen Impfquoten könnte der Ausstieg Ungeimpfter personelle Probleme auslösen."

Wir reden hier aber doch nur von einem sehr geringen Prozentsatz im Pflegebereich, der nach wie vor nicht gegen Corona geimpft ist, oder?

Bammessel: In unserer Bevölkerung - und damit auch bei Pflegekräften - gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen, die bislang die Impfung nicht als das Mittel der Wahl im Kampf gegen die Corona-Pandemie anerkannt haben. In einer freien Gesellschaft muss ich das akzeptieren. Auch wenn ich es persönlich für ein Gebot der Verantwortung für andere halte, sich impfen zu lassen. Selbst in Einrichtungen mit hohen Impfquoten könnte der Ausstieg Ungeimpfter personelle Probleme auslösen. Wenn es in einem Pflegeheim 50 Angestellte gibt und 92 Prozent davon sind geimpft, könnten vier Mitarbeitende bei einem Arbeitsverbot für Impfverweigerer ausfallen. Das klingt wenig, aber bei der ohnehin äußerst knappen Personaldecke kann man das nur schwer auffangen. Die Grenze, ab wann der Versorgungsauftrag nicht mehr gewährleistet werden kann, ist schnell erreicht.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wo im Pflege- und Sozialbereich überall etwas im Argen liegt. Ist das sozusagen die "gute Seite" der Pandemie, weil sie die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre noch mal sehr viel deutlicher gemacht hat?

Bammessel: Diesen "Hallo wach"-Effekt hat es eigentlich nicht gebraucht, um den Ernst der Lage begreifen zu können - wir reden über diese Themen schließlich nicht erst seit Corona. Die prekäre Lage in den sozialen Berufen ist meiner Meinung nach auch weniger ein Problem der Erkenntnis, als vielmehr ein Problem der Umsetzung. Der Fachkräftemangel ist schon jetzt ein riesiges Problem, nicht nur im Sozial- und Pflegebereich, sondern überall. Mit einem höheren Lohn alleine löst sich das Problem des demografischen Wandels jedenfalls nicht.

"Aus meiner Sicht wird es keine Lösung geben, ohne eine noch wesentlich stärkere und in verantwortungsvoller Weise durchgeführte Anwerbung von Menschen aus dem Ausland."

Sondern?

Bammessel: Aus meiner Sicht wird es keine Lösung geben, ohne eine noch wesentlich stärkere und in verantwortungsvoller Weise durchgeführte Anwerbung von Menschen aus dem Ausland. Natürlich nicht aus Ländern, die selbst einen Fachkräftemangel haben und natürlich nur mit entsprechenden Begleitmaßnahmen, was die Sprache und die Ausbildung angeht. Aber es gibt durchaus Länder auf dieser Erde, die haben junge Menschen, die zum Teil sogar gut ausgebildet sind, die auch bereit wären, nach Deutschland zu kommen. Und es gibt ja auch schon Menschen, die hier sind - deshalb kann ich absolut nicht begreifen, weshalb unsere Staatsregierung so handelt, wie sie handelt: Wir haben hier Geflüchtete, die inzwischen gut integriert sind, die im Pflegebereich arbeiten wollen, denen aber die Arbeit oder sogar Ausbildung verboten und die Abschiebung angedroht wird.

Bei diesen Themen waren Sie als Diakoniepräsident auch immer im Gespräch mit der Politik. Sehen Sie sich in diesem Bereich als gescheitert?

Bammessel: Politische Arbeit ist Millimeterarbeit. Das ist mühsame Kärrnerarbeit und nur selten gibt es diese großen Durchbrüche. Wir sind aber an vielen Punkten vorangekommen. Zu meinem Amtsantritt musste zum Beispiel im Pflegebereich immer noch ein Schulgeld während der Ausbildungszeit gezahlt werden – das wurde dank der Lobbyarbeit der Wohlfahrtsverbände abgeschafft. Auch im Bereich der Zuwanderung haben wir durch viele Gespräche im Hintergrund gewisse Fortschritte erreicht; leider aber immer noch zu wenig.

Bleiben wir noch kurz bei der Politik: Sie hatten als Diakoniepräsident viel Kontakt zu bayerischen Spitzenpolitikerinnen und -politikern. Welche Begegnung hat Sie besonders beeindruckt – positiv wie negativ?

Bammessel: Eine Sternstunde war, als der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms mal eine wirklich große Verbandsrunde eingeladen hat. Seit allerdings Markus Söder im Amt ist, hat es kein einziges solches Gespräch mehr gegeben, obwohl die Wohlfahrtsverbände mehrfach darum gebeten haben. Das ist wirklich enttäuschend, das muss man so klar sagen. Zumal andere Verbände wie die bayerische Wirtschaft durchaus in der Staatskanzlei gefragt sind. Grundsätzlich haben wir zu den für uns wichtigen Ministerien immer wieder sehr gute Kontakte aufgebaut - aber gerade im Sozialministerium mussten wir immer wieder von vorne anfangen. Mit Ulrike Scharf sitzt dort jetzt die inzwischen fünfte Sozialministerin meiner Amtszeit. Solche ständigen Führungswechsel sprechen nicht gerade für einen hohen Stellenwert dieses eigentlich so wichtigen Ministeriums in der Staatsregierung.

Gab es solche großen Runden seit der großen Flüchtlingsbewegung der Jahr 2015/2016 weiterhin?

Bammessel: Ja, Seehofer hat die bayerischen Wohlfahrtsverbände immer mal wieder zu Spitzengesprächen mit der Staatsregierung eingeladen, dort konnten wir viele soziale Themen ansprechen. Seit allerdings Markus Söder im Amt ist, hat es kein einziges solches Gespräch mehr gegeben, obwohl die Wohlfahrtsverbände mehrfach darum gebeten haben. Das ist wirklich enttäuschend, das muss man so klar sagen. Zumal andere Verbände wie die bayerische Wirtschaft durchaus in der Staatskanzlei gefragt sind. Grundsätzlich haben wir zu den für uns wichtigen Ministerien immer wieder sehr gute Kontakte aufgebaut – aber gerade im Sozialministerium mussten wir immer wieder von vorne anfangen. Mit Ulrike Scharf sitzt dort jetzt die inzwischen fünfte Sozialministerin meiner Amtszeit. Solche ständigen Führungswechsel sprechen nicht gerade für einen hohen Stellenwert dieses eigentlich so wichtigen Ministeriums in der Staatsregierung.

Wenn Sie jetzt doch deutliche Kritik äußern – waren Sie in den vergangenen Jahren das ein oder andere Mal als Diakoniepräsident nicht doch zu leise oder zu zaghaft?

Bammessel: Das ist ja immer eine Abwägung, womit man glaubt, mehr erreichen zu können: mit vertrauensvollen, geduldigen Gesprächen und Überzeugungsarbeit – oder durch laute Kritik, Polemik und Skandalisierung. Letzten Endes ist die Rolle der Diakonie im Gegensatz etwa zum Bayerischen Flüchtlingsrat, der Probleme sehr zugespitzt benennt , sicher nicht die des großen Polterers. Und letztlich ist es auch eine Persönlichkeitsfrage. Ich bin niemand, der ständig skandalisiert. Ich setze in der Regel auf Gespräche und Vertrauen – und glaube, dass sich das auf lange Sicht bewährt, auch wenn man anders vielleicht mal schneller eine kurzfristige Wirkung erzielt hätte.

In der bayerischen Landessynode gehören Sie dem Konservativen Arbeitskreis an – mit Blick auf ihre Offenheit beim Thema Migration: Sie sie da oft angeeckt?

Bammessel: Ich kann mit diesen Etiketten wenig anfangen - was heißt denn in diesem Zusammenhang konservativ? Ein früheres Mitglied des Arbeitskreises hat zum Beispiel für die Linke zum Bundestag kandidiert. Ich bin mit diesen Begriffen und Schubladen vorsichtig, denn in allen synodalen Arbeitskreisen ist ein breites Spektrum versammelt. In diesen nicht öffentlichen Arbeitskreissitzungen trägt man die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten möglichst offen aus, das ist fruchtbar. Mit meiner Haltung zur Migrationsfrage fand ich im Arbeitskreis "Gemeinde unterwegs" beides: Kritische Rückfragen und Zuspruch.

"Damit es eine kirchliche Diakonie bleibt, brauchen wir genügend Menschen, die persönlich für das kirchliche Profil der Diakonie bewusst einstehen."

Blicken wir auf die Schnittstelle Kirche/Diakonie: Wie wirkt sich die zunehmend kirchenkritische Haltung in der Gesellschaft auf die Arbeit der Diakonie aus?

Bammessel: Natürlich merken wir, dass die Zahl der Menschen, die bei der Diakonie arbeiten und arbeiten wollen, und die zugleich einen echten, gewachsenen, stabilen kirchlichen Bezug haben, weiter abnimmt. Das ist schon ein Problem. Ich kann bei der Diakonie zwar durchaus Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen anstellen, solange sie unsere christliche Grundausrichtung bejahen. Aber damit es eine kirchliche Diakonie bleibt, brauchen wir schon auch genügend Menschen, die persönlich für das kirchliche Profil der Diakonie bewusst einstehen.

Wenn aber immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten – das betrifft ja auch irgendwann die „Bestandsmitarbeiter“ von diakonischen Einrichtungen…

Bammessel: Ganz klar. Vor allem das Missbrauchsthema hat bei so manchen unserer zahlreichen katholischen Mitarbeitenden für eine Erschütterung ihrer Kirchenbindung gesorgt – bis hin zum Austritt. Trotzdem können das sehr wertvolle Mitarbeitende sein, die eine christliche Grundhaltung vielleicht stärker leben als jemand, der nur auf dem Papier Kirchenmitglied ist. Man muss da genau hinsehen und abwägen, wie man mit dem Diakonischen Dienstrecht an dieser Stelle umgeht.

Was heißt das konkret? Der Pflegehelfer darf aus der Kirche austreten, die Pflegedienstleitung oder Kita-Leiterin hingegen nicht?

Bammessel: Solche Entscheidungen treffen die einzelnen Träger und Einrichtungen vor Ort - und dort ist es meiner Meinung nach auch richtig aufgehoben, weil nur dort der Einzelfall gesehen und beurteilt werden kann. Man hat in der Vergangenheit ja immer versucht, das relativ formal zu definieren, - bei welcher Stelle muss man Mitglied der evangelischen Kirche sein, wofür genügt auch eine Mitgliedschaft in einer anderen christlichen Kirche, bei welchen Jobs ist das gar nicht mehr relevant und so weiter. Es kann aber sein, dass etwa eine muslimische Pflegekraft sehr viel mehr Verständnis für die religiösen Bedürfnisse einer alten Dame hat, als ein evangelisches Kirchenmitglied, dem der Glaube sehr fern ist. Aber es gibt Bereiche, in denen Christsein essenziell ist, beispielsweise überall dort, wo es um christliche Erziehung im Kindergarten geht, oder um eine Begleitung am Lebensende.

Was heißt das in letzter Konsequenz für das kirchliche Arbeitsrecht? Dass es ausgedient hat?

Bammessel: Nein. Aber das kirchliche Arbeitsrecht wird in diesem Punkt weiter flexibilisiert werden müssen. Und wir müssen als Kirche auch einladender sein: Es gibt viele Mitarbeitende, die der Kirche gar nicht ablehnend gegenüberstehen, die aber einfach nicht kirchlich sozialisiert wurden und wenig über Kirche und Glauben wissen. Wir müssen Möglichkeiten bieten, dass sich unsere Mitarbeitenden über Fragen ihres Glaubens und der christlichen Grundhaltung austauschen können. Mit dem mittlerweile breit angelegten Angebot der Willkommens-Tage für neue Mitarbeitende haben wir in der bayerischen Diakonie einen ersten Schritt gemacht.

Sie wollten Kirche und Diakonie wieder enger zusammenführen, die Diakonie in den Kirchengemeinden wieder mehr verwurzeln. Ist Ihnen das rückblickend gelungen?

Bammessel: Es hat auf vielen Ebenen eine positive Entwicklung gegeben. So haben wir einen Landesbischof, der den Fokus auch sehr stark auf soziale Fragen lenkt. Auch in der Landessynode spüre ich wirklich einen großen Rückhalt für diakonische Anliegen. Auf Gemeindeebene haben wir das württembergische Erfolgsmodell der Vesperkirchen nach Bayern geholt und stark unterstützt - dort passiert in der Kirche ein für alle sichtbares diakonisches Engagement. In diesem Bereich ist also schon einiges in Bewegung gekommen, aber natürlich ist da auch noch viel Luft nach oben.

Welche weiteren Visionen hatten Sie zu ihrem Amtsantritt vor rund zehn Jahren?

Bammessel: Ich bin ehrlicherweise nicht mit großen Visionen angetreten – das wäre mir auch ein bisschen überheblich vorgekommen. Bei der Diakonie arbeiten Tausende Ehren- und Hauptamtliche, die tolle und engagierte Arbeit leisten. Die haben nun sicher nicht darauf gewartet, dass der vormalige Nürnberger Stadtdekan Bammessel ihnen nun als Diakoniepräsident irgendwelche Visionen präsentiert. Das ist auch nicht meine Art.

Aber es gab mehrere Meilensteine in ihrer Amtszeit, oder?

Bammessel: Zumindest gab es mehrere dicke Bretter zu bohren. Zum Beispiel die starke Kontroverse mit den Gewerkschaften, die uns als Diakonie Lohndumping vorgeworfen und den dritten Weg im kirchlichen Arbeitsrecht massiv attackiert haben. Mir war es ein Anliegen, an dieser Stelle zu befrieden und die Skandalisierung rauszunehmen. Ich verstehe, dass die Gewerkschaften den Dritten Weg nie gut finden werden – aber ich habe mit dem damaligen bayerischen DGB-Präsidenten Matthias Jena – er ist leider früh verstorben - eine gute Gesprächsebene gefunden. Er war ja auch Mitglied der Landessynode; dort haben wir gemeinsam dafür geworben, dass es für den Bereich der Diakonie einen Gesamtausschuss der Mitarbeitervertretungen geben soll. Das ist gelungen, und damit wurde die Rolle der Mitarbeitendenvertretungen deutlich gestärkt. Zudem haben wir uns als Diakonie zusammen mit anderen Sozialverbänden dafür eingesetzt, dass es im Pflegebereich zu Verbesserungen kommt. Da haben wir gemeinsam einiges erreicht, aber insgesamt kann man nicht an allen Stellen mit dem Ist-Zustand zufrieden sein, muss ich zugeben.

"Im Bundestagswahlkampf war Pflege wieder mal nur ein Randthema. Da bräuchte es endlich eine 'Neuaufstellung'."

Woran liegt es, dass es politisch beim Thema Pflege einfach nicht vorangeht - oder nur sehr, sehr langsam?

Bammessel: Da fragen Sie mich was! Pflege ist seit mehr als zehn Jahren ein Megathema. Aber den politischen Willen, das große Rad zu drehen, den kann ich einfach nicht erkennen. Im Bundestagswahlkampf war Pflege wieder mal nur ein Randthema. Da bräuchte es endlich eine "Neuaufstellung". Dass der große Wurf möglich wäre, das hat man in den vergangenen Jahren und Tagen bei anderen Themen gesehen. In der Pandemie wurden Rettungspakete in aberwitzigen Höhen geschnürt. Seit Beginn des Ukraine-Krieges wurden viele zusätzliche Milliarden für die Verteidigung angekündigt. Und die Pflege?

Braucht es in der Pflege also erst einen großen Knall wie den russischen Überfall auf die Ukraine, damit man die Notwendigkeit eines "großen Wurfs" in dem Bereich erkennt?

Bammessel: Im Prinzip ist der große Knall schon längst da, nur kam er eben schleichend. Der Pflegenotstand ist keine Zukunft, er ist bereits Realität. Auch Diakonie-Einrichtungen müssen beispielsweise in der ambulanten Pflege mancherorts nicht nur neue Anträge ablehnen, sondern sogar bestehende Verträge mit Patientinnen und Patienten kündigen. In Unterfranken musste beispielsweise eine ganze Diakoniestation dauerhaft schließen, weil dort einfach keine Pflegekräfte mehr gefunden wurden. Dass der Ernst der Lage bislang gesellschaftlich und politisch nicht wirklich realisiert wird, das macht mich einigermaßen ratlos.

Eigentlich aber müssten doch Pflegekräfte besonders gerne bei kirchlichen Trägern arbeiten, denn vom Tarifgefüge her bekommen sie dort mehr als bei vielen Privaten…

Bammessel: Das stimmt. Und das bestätigt wieder meine These, dass es nicht nur am Geld liegt. Die Diakonie und auch die Caritas haben gute Bedingungen, vor allem, wenn man beispielsweise die zusätzliche private Altersversorgung noch mit in den Blick nimmt. Aber viele Pflegekräfte schauen da offenbar nicht genau hin. Allerdings wird mir in letzter Zeit häufiger berichtet, dass Fachkräfte etwa von privaten Trägern zur Diakonie wechseln, besonders dann, wenn hier das Klima im Team gut ist. Aber das ändert nichts daran, dass auch wir den Personalmangel immer heftiger spüren.

Die Pandemie ist noch nicht vorbei – schon erleben wir den nächsten Schock mit dem Ukraine-Krieg. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft hierzulande?

Bammessel: Ich gehe davon aus, dass sich die sozialen Probleme in unserem Land so wie auch in ganz Europa wegen der Pandemie und der Kriegsfolgen noch mal weiter zuspitzen werden. Für uns als Diakonie heißt das, dass wir sicher noch mehr gebraucht werden, vor allen Dingen im Bereich der Jugendhilfe, weil Heranwachsende mit dem Erlebten nicht mehr klarkommen. Angesichts steigender Energie- und Lebenshaltungskosten sicher in der armutsorientierten Diakonie, bei den Sozial- und Beratungsdiensten. Auch in der Behindertenhilfe werden wir weiter gefragt sein, und nicht zuletzt beim Thema Assistierter Suizid. Kirche und Diakonie sind der festen Überzeugung, dass es in allen Bereichen eine noch bessere Sterbebegleitung braucht, damit gar nicht erst der Wunsch aufkommt, dem Leben selbst ein Ende zu setzen. Das heißt, wir müssen mit solchen Angeboten eben nicht nur in Hospizen und Pflegeheimen präsent sein, sondern letztlich auch bei jedem Menschen, der zu Hause seine letzten Lebensmonate verbringen will.

Angesichts dieser großen Herausforderungen: Welchen Rat würden Sie Ihrer Nachfolgerin mitgeben wollen?

Bammessel: Sie braucht Tatkraft und Energie - aber das hat sie zweifelsohne. In einem solchen Amt muss man vor allem darauf achtgeben, dass man sich nicht vom Kleinklein aufreiben lässt. Man muss manchmal ein bisschen über den Dingen stehen, um Energie für die "großen Linien" zu haben. Zu tun gibt es jedenfalls eine Menge: Das Megathema wird der enorme Fachkräftemangel bleiben. Die Herausforderung wird beispielsweise sein, wie man Menschen länger in diesen Berufen halten kann, indem man die Arbeitsbedingungen und -belastungen verbessert, und wie man neue Arbeitskräfte gewinnt - auch aus dem Ausland.

"Leitungsämter in der Diakonie können gleichermaßen von Frauen wie von Männern wahrgenommen werden."

Viele diakonische Themenfelder sind im Bereich der Mitarbeitenden weiblich dominiert. Wie wichtig ist es, dass es jetzt erstmals eine Präsidentin bei der Diakonie gibt?

Bammessel: Zum einen ist es ein gutes und wichtiges Signal - und es hat, weil mit Sabine Weingärtner eben zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der bayerischen Diakonie steht, auch einen gewissen Symbolcharakter, über den ich mich sehr freue. Auf der anderen Seite wünsche ich mir eigentlich, dass das eine Selbstverständlichkeit wird: Leitungsämter in der Diakonie können gleichermaßen von Frauen wie von Männern wahrgenommen werden.

"Die Stärke unserer Konstruktion ist die Überparteilichkeit."

Wechsel an Verbandsspitzen sind oft ein guter Zeitpunkt, Strukturen zu überdenken. Warum ist der Diakonie-Präsident nicht zugleich Chef eines großen Sozialunternehmens?

Bammessel: Historisch gesehen gab es so ein Modell in Bayern ja auch einmal – mit einem Diakonie-Landespfarrer auf der einen und einem Diakoniepräsidenten auf der anderen Seite. Letzteres hatten als Ehrenamt zumeist die Rektoren von Rummelsberg oder Neuendettelsau inne. Ich sähe jetzt keinen Gewinn, dahin zurückzukehren. Es käme im Landesverband nicht gut an, wenn Leitungspersonen aus einem der großen, selbstbewussten Träger jetzt für die gesamte Diakonie sprächen. Die Stärke unserer Konstruktion ist die Überparteilichkeit – der Diakoniepräsident bzw. zukünftig die Diakoniepräsidentin steht für die gesamte Diakonie in Bayern, und dazu gehört der kleine Diakonieverein ebenso wie das große Sozialunternehmen.

Und Sie halten es weiterhin für zwingend geboten, dass die Spitzenposition in der Diakonie von einer Pfarrerin oder einem Pfarrer eingenommen wird?

Bammessel: Ja, unbedingt. Diakonie ist eben nicht zufällig evangelisch, sondern das, was wir tun, hängt eng mit unserem Glauben, mit unserer evangelischen Prägung zusammen. Es gibt aber nicht nur die Präsidentin oder den Präsidenten - der Diakonie-Vorstand besteht aus vier gleichberechtigten Personen, da sind neben der theologischen Dimension dann auch die juristische Kompetenz und andere wichtige Fähigkeiten gut vertreten, finde ich.

Sie hatten in ihrem Arbeitsleben verschiedene Funktionen, unter anderem Diakonie-Präsident, Stadtdekan und Pfarrer – was hat Ihnen letztlich am meisten Freude gemacht?

Bammessel: Ich habe jede meiner Aufgaben sehr gerne gemacht. Am schwersten ist mir rückblickend aber wohl der Wechsel vom Gemeindepfarrer zum Stadtdekan gefallen. Die Arbeit in der Gemeinde war sehr lebendig und kreativ. Das Dekansamt hat demgegenüber geradezu etwas Asketisches. Manche Leute glaube, Leitungsaufgaben sind grundsätzlich etwas Tolles, weil man dann vieles gestalten kann. Letztlich ist es aber genau andersherum: Man schafft als Leitung den Rahmen, damit andere möglichst viel gestalten können.

Herr Bammessel, was werden Sie am ersten Tag ihres Ruhestands machen?

Bammessel: Das weiß ich noch nicht so richtig. Nur, dass ich nicht zuhause sein werde. Meine Frau hat mir verraten, dass sie am ersten April zu einer Reise mit mir aufbrechen wird – wohin, ist noch eine Überraschung.

Das heißt, ihr letzter offizieller Arbeitstag wird der letzte Tag der Frühjahrstagung der Landessynode in Geiselwind sein?

Bammessel: Ja, genau. Und das wird auch mein letzter Tag in der Synode insgesamt sein, weil ich auf eigenen Wunsch ausscheiden werde. Ich hätte zwar, weil Berufungen immer personenbezogen sind, auch im Ruhestand weiter Synodaler sein können – aber ich bin als Diakoniepräsident in die Synode berufen worden, als Verbindungsglied zwischen Diakonie und Kirche sozusagen. Und deshalb halte ich es für richtig, dass meine Vorstandskollegin Sandra Schuhmann diese Aufgabe in der Landessynode künftig übernehmen wird.

"Mehr Zeit in der Natur, das wäre auch schön."

Einmal abgesehen von der Überraschungsreise – was werden Sie im Ruhestand jetzt endlich machen, wofür Sie vorher kaum oder gar keine Zeit hatten?

Bammessel: Zum einen hoffe ich, dass ich es deutlich öfter mal zum Club ins Stadion schaffe. Außerdem freue ich mich auf mehr Zeit für die und mit der Familie. Mein Sohn hat gerade sein Vikariat begonnen – und hat ein kleines Baby. Da gibt es also sicher für den Großvater immer etwas zu tun. Und mehr Zeit in der Natur, das wäre auch schön.