Der Krieg in der Ukraine. Die Corona-Pandemie. Die Klimakrise. Wir leben in schwierigen Zeiten, die weltpolitische Lage ist bedrückend und belastet viele Menschen sehr. Woraus können wir derzeit Hoffnung schöpfen? Wie seelische Widerstandskraft entwickeln? Wie kann der Glaube Trost spenden?

In unserer Serie "Zuversicht in der Krise" suchen wir nach Antworten auf diese Fragen – im Gespräch mit Pfarrerinnen, Pfarrern und Expert*innen anderer Fachgebiete. Im fünften Teil unserer Serie erklärt Norbert Ellinger von der Beratungsstelle Münchner Insel, wie man Macht über seine eigenen Ängste bekommt und warum Beten auch nicht-gläubigen Menschen helfen kann.

Herr Ellinger, erleben Sie seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs eine verstärkte Nachfrage bei der Seelsorge?

Norbert Ellinger: Ja. Das ist immer so, wenn bestimmte Dinge passieren wie jetzt in der Ukraine- Krise, die den Leuten Angst machen und Sorge bereiten. Das spiegelt sich immer sofort in den Gesprächen wieder. Aber es ist nicht so, dass jemand explizit deswegen anruft und sagt: ‚Ich muss mit Ihnen sprechen, weil ich mir Sorgen mache um die Menschen in der Ukraine oder um uns‘ oder: ‚Ich habe Angst, dass ein Atomkrieg losgeht‘. Häufig sind es Menschen, die sowieso schon mit Ängsten leben und eine dünne Haut haben.

"Indem man über Ängste spricht, gewinnt man Kontrolle über sie."

Und wie können Sie denen helfen?

Ellinger: Es ist ja schon mal ein gutes Mittel, über Ängste zu reden und sie nicht in sich hinein zu fressen. Indem man über sie spricht, gewinnt man schon ein bisschen Kontrolle über sie. Man merkt, dass man ihnen nicht mehr ganz so ausgeliefert ist, sondern über sie sprechen kann. Man nimmt eine andere Perspektive ein und merkt, dass man die Angst anschauen und über sie reden kann. Und damit gewinnt man ein bisschen mehr Macht über die Angst. Allein das ist schon mal eine Hilfe. Mittlerweile geht das Thema Ukraine aber schon wieder zurück, die Leute äußern das nicht mehr so häufig direkt.

Macht sich da ein gewisser Gewöhnungseffekt bemerkbar?

Ellinger: Ja, man muss auch lernen, damit zu leben. Es ist anstrengend für die Psyche, das ständig wach zu halten. Und davor muss man sich auch selber schützen. Das heißt, man soll es auch nicht ständig thematisieren. Da muss man eine Balance finden. Auch, was den Konsum von Informationen und Nachrichten anbelangt. Es ist auf der einen Seite wichtig, dass man weiß, was vor sich geht, aber den ganzen Tag BR24 zu hören, wo jede Viertelstunde die neuesten schrecklichen Nachrichten kommen – das ist nicht ratsam.

"Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen Empathie und Mitgefühl, aber auch genügend innere Distanz."

Ist es nicht schwer, sich da abzugrenzen – vor allem, wenn man vielleicht sogar betroffen ist, etwa Verwandte in der Ukraine hat?

Ellinger: Das ist klar. Aber man muss sehr genau darauf achten, was einem wirklich gut tut. Ich kann die Situation nicht dadurch verändern, dass es mir schlecht geht. Damit tue ich niemandem einen Gefallen. Es nützt keinem einzigen Ukrainer, wenn ich es mir hier in Deutschland schlecht geht, wenn ich zu viele Nachrichten schaue und mitleide. Was ihm hilft, ist vielleicht, wenn ich etwas spende oder einen Ukrainer aufnehme, der hierherkommt. Es geht also darum, auch hier eine Balance zu finden zwischen Empathie und Mitgefühl, aber auch genügend innere Distanz.

Was sagen Sie Menschen, denen jetzt angesichts der vielen Krisen alles zu viel wird?

Ellinger: Wir leben schon seit zwei Jahren in der Krise. Jetzt kommt die nächste und die alte ist noch nicht vorbei. Was helfen kann: Zu versuchen, vom Negativen ins Positive zu kommen. Ich will nicht krank werden, ich will mich nicht infizieren, ich will keine Angst haben – das sind lauter Verneinungen. Und es sind Verneinungen von Dingen, auf die ich keinen Einfluss habe oder nur sehr wenig. Stattdessen kann ich mir überlegen: Was sind denn meine Bedürfnisse? Was tut mir gut? Also: Ich will mich gut fühlen. Das ist zumindest schon mal was Positives. Und dann kann ich sagen: Okay, ich gehe jetzt spazieren, setze mich auf eine Bank und lasse mich von der Sonne bescheinen. Das tut mir gut. Das ist einfach gesund für das Selbst: Mich nicht bestimmen zu lassen von dem, was ich nicht will, sondern zu schauen, was ist mir denn wertvoll? Das heißt ja nicht, dass ich das das andere dann nicht mehr wahrnehme oder mich nur noch ablenke.

Unser Gesprächspartner Norbert Ellinger

Seit 1. Oktober ist Norbert Ellinger der neue evangelische Leiter der ökumenischen Beratungsstelle "Münchner Insel" im Marienplatz Untergeschoss. Davor leitete er seit März 2015 die Evangelische TelefonSeelsorge München. Bis 2015 betreute der verheiratete Vater von fünf Kindern vier Jahre lang Studierende als Studienleiter und war zwölf Jahre Gemeindepfarrer in München-Freimann.

Ebenfalls als Gemeindepfarrer war Ellinger, der unter anderem in Tübingen und São Paulo Theologie studierte, in Rio de Janeiro tätig. Er ist zertifizierter Onlineberater mit mehrjährigen Zusatzausbildungen in Klientenzentrierter Gesprächsführung, Kommunikationspsychologie, Geistlicher Begleitung, Systemischer Seelsorge und Supervision.

"Durch Beten komme ich auch ins Handeln."

Raten Sie Menschen auch, zu beten?

Ellinger: Durch Beten komme ich auch ins Handeln. Kann man sich natürlich streiten, aber als gläubiger Mensch gehe ich davon aus, dass Beten etwas bewirkt. Es kann schon etwas Positives bewirken, indem ich den Menschen, denen es schlecht geht, etwas Gutes wünsche und sie in die Hand Gottes lege. In meinen Gedanken glaube ich daran, dass etwas Gutes passiert. Etwas, was mir guttut. Und auch den anderen.

Eine Studie kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass religiöse Menschen seelisch besser mit der Corona-Krise umgehen konnten als nichtgläubige Menschen.

Ellinger: Ja, ich glaube, das ist schon ein Resilienz Faktor. Beten schafft in meinem Kopf andere Gedanken. Ich fühle mich durch beten automatisch in jemand anderen hinein. Ich stelle mir durch das Beten vor, wie könnte es besser sein oder ich danke Gott, dass es mir gut geht, dass ich gesund bin, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. Also mache ich mir bewusst, was ich alles an Gutem habe und erleben darf. Und Dankbarkeit ist auch gesund für mein psychisches Immunsystem.

"Viele Menschen, die sich als nicht gläubig bezeichnen würden, gehen gerne in die Kirche und lassen sich von dem Raum beruhigen."

Würden Sie also auch nichtgläubigen Leuten raten, das auszuprobieren?

Ellinger: Wenn sich jemand darauf einlässt. Viele Menschen, die sich als nicht gläubig bezeichnen würden, gehen gerne in die Kirche und lassen sich von dem Raum beruhigen, zünden vielleicht eine Kerze an und senden jemandem gute Gedanken, würden das aber vielleicht nicht als Gebet titulieren. Es gibt auf jeden Fall meinen Gefühlen Ausdruck – und alles, was Eindruck in mir hinterlässt, möchte sich irgendwie ausdrücken.

Also helfen uns auch Rituale, mit Krisen umzugehen?

Ellinger: Wir sind ja letztlich als einzelne Personen ohnmächtig. Gegen die Pandemie oder den Krieg können nichts aktiv tun. Ich muss erst mal diese Machtlosigkeit aushalten, und Rituale helfen dabei. Wenn ich eine Kerze anzünde, ändere ich natürlich erst mal nichts, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich etwas tue. Oder eine Demonstration von 15.000 Leuten – da kann man auch sagen: Na, das wird den Herrn Putin aber beeindrucken. Aber es ändert sich mein Gefühl von Zugehörigkeit. Es ändert sich etwas in mir durch die Gemeinschaft und durch Rituale. Gemeinsame Gottesdienste, gemeinsame Feiern, gemeinsames Tun – das kann man auch im Kleinen. In Krisenzeiten hilft es, überhaupt Beziehungen zu pflegen. Sich nicht abschotten. Wenn Menschen allein zu Hause sitzen und sich nicht austauschen und jemanden treffen dürfen – dafür sind wir nicht gemacht. Das tut unsere Seele nicht gut. Dafür gehen wir ein wie eine Pflanze, die kein Wasser bekommt.

Die Pandemie hat das ja in den letzten beiden Jahren quasi zum Normalzustand gemacht.

Ellinger: Umso wichtiger ist es jetzt, wo man es wieder darf, es dann auch zu tun: Freundschaften zu pflegen, auszugehen, auch wieder auch ein bisschen den Mut zu haben, das zu machen, was man wieder machen darf. Ins Konzert zu gehen, oder vor allem die jungen Leute, wieder auf Partys zu gehen. Wir leiden fast alle an Bewegungsmangel und Bewegung setzt Endorphine frei.

"Wenn Jesus sagt: ‚In der Welt habt ihr Angst‘, dann ist das eine Feststellung."

Müssen wir uns nicht nur individuell, sondern auch als Gesellschaft besser auf Krisen einstellen und vorbereiten?

Ellinger: Wir sind hier in der Bundesrepublik seit 1945 von größeren Krisen verschont geblieben. Wir hatten keinen Krieg. In wie vielen Ländern gab es das 70 Jahre lang? Wir hatten Wohlstand. Wie hätten wir das also lernen sollen, in eine so lang andauernde Krise zu kommen? Also ich bin froh, wenn ich es nicht lernen muss. Aber ich glaube, wir haben auch falsche Erwartungen. Wir sehen es als Normalzustand an, dass es so ist. Aber für Menschen in anderen Ländern dieser Welt ist die Krise der Normalzustand. Wir müssen es so nehmen, wie es kommt. Und das ist auch etwas, was zur Bewältigung von Krisen beiträgt, nämlich die Akzeptanz der Krise. Sie also weder zu verleugnen und wegzudiskutieren noch ständig darunter zu leiden, sondern zu sagen: Okay, es gibt im Leben Krisen, die gehören dazu. Und ich akzeptiere das jetzt. Also akzeptieren heißt nicht, dass ich das gut finden muss. Aber ich höre auf, dagegen innerlich anzukämpfen. Ich glaube, das ist ein Unterschied. Wenn Jesus sagt: ‚In der Welt habt ihr Angst‘, dann ist das eine Feststellung. Und es hat keinen Sinn, wenn ich mich deswegen ständig schlecht fühle.

Was kann uns helfen, wenn wir uns trotzdem schlecht fühlen?

Ellinger: Man spricht ja heute vom Selbstmitgefühl. Also: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich finde das immer noch eine wunderbare Leitlinie, gerade in der Krise darauf zu achten: Wie kann ich gut zu mir selber sein? Nehmen wir das Beispiel mit dem Flugzeug: Bevor man losfliegt, kommen die Anweisungen, und dann wird immer gesagt: Bei Sauerstoffabfall fallen Masken von der Decke und wenn Sie mit einem Kind da sind, ziehen Sie sich zuerst die Maske auf und dann erst ihrem Kind. Und das ist sinnvoll, wenn ich meinem Kind die Maske aufsetzen will und dabei ohnmächtig werde, hat das Kind auch nichts mehr davon. Ich muss mich erst um mich selber kümmern, dann kann ich mich um mein Kind kümmern. Und so ähnlich ist es auch in der Krise. Das heißt ja nicht, dass ich nur noch auf mich schaue, sondern ich darf auch auf mich schauen und sehen, wie ich gut durch die Krise komme, damit ich gut für andere da sein kann.

"Ich habe das schon mal geschafft und es fühlt sich gut an. Und wieso sollte ich es dieses Mal nicht schaffen?"

Was macht uns noch stark in Krisenzeiten?

Ellinger: Zu schauen, welche früheren Krisen haben Sie denn schon mal überstanden? Und wie haben Sie es geschafft, das damals zu überstehen? Jeder Mensch hat schon Krisen überstanden. Und es fühlt sich zwar im Moment immer so an, als wäre das jetzt die schlimmste und einzige Krise, die man erlebt. Aber wenn man sich erinnert, ich hatte ja schon mehrere Krisen, was hat mir denn damals geholfen, dann aktiviert es dieses Gefühl: Ich habe das schon mal geschafft und es fühlt sich gut an. Und wieso sollte ich es dieses Mal nicht schaffen? Vielleicht hilft das, was einem damals geholfen hat, in der aktuellen Krise wieder. Es ist ja auch oft das Ergebnis, dass eine Krise einen stärker macht, wenn man sie dann durchschritten hat.