In der öffentlichen Diskussion werden junge Geflüchtete häufig per se mit Islamismus identifiziert. Eine aktuelle Studie belegt, dass das so nicht stimmt. "Die Bedeutung der Religion für Geflüchtete wird gleichzeitig über- und unterschätzt", sagt Manfred Pirner in einem Gespräch mit dem Sonntagsblatt.
Er ist Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg und hat dazu 45 junge Muslime, orthodoxe Christen und Jesiden aus Nürnberg, Leipzig und Berlin befragt.
Herr Professor Pirner, haben junge Geflüchtete eine höher ausgebildete Religiosität?
Manfred Pirner: Auch in unserer Studie hat sich, wie in vielen anderen empirischen Erhebungen, bestätigt, dass ihre Religiosität sehr hoch ausgeprägt ist. Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wichtig die Religion in ihrem Leben ist, verorten sich mehr als die Hälfte der Befragten bei zehn. Im Durchschnitt lag der Wert bei 8,4, das ist deutlich überdurchschnittlich gegenüber der einheimischen Bevölkerung.
Verändert sich dieser Wert, wenn die jungen Migranten eine Zeit lang in Deutschland gelebt haben?
Pirner: Schwächer ist der Glaube nur bei sieben Probanden geworden. Bei den anderen, je zur Hälfte stärker oder anders. Sie gaben zum Beispiel an, dass in Syrien und im Irak nicht so viel darüber nachgedacht wurde, es war selbstverständlich ein Muslim zu sein. Durch die größere religiöse Vielfalt in Deutschland sei der Umgang mit der Religion bewusster geworden. Es gab auch bemerkenswerte Äußerungen wie, dass sie jetzt hier ihre Religiosität freier und bewusster leben könnten, ohne sozialen Druck.
Wie ist die Einstellung der Befragten zu anderen Religionen?
Pirner: 20 der Befragten sagten zum Beispiel, dass sie bisher kaum etwas über andere Religionen gewusst hätten, bevor sie nach Deutschland kamen. Das variiert je nach Herkunftsland: In Syrien, wo ein religiöser Pluralismus herrscht und es auch Christen und Juden gibt, gibt es natürlich mehr Möglichkeiten, Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit zu begegnen als in Ländern wie Irak und Afghanistan mit einer weitgehend monoreligiösen Kultur. Allerdings berichten fast alle Befragten, dass im Religionsunterricht in ihrem Heimatland nur die eigene Religion behandelt wurde.
Lässt sich daraus weniger Respekt für andere Religionen schließen?
Pirner: Zunächst sind eine große Unsicherheit und auch eine gewisse Distanz festzustellen. Es gibt aber auch Hinweise, dass aus der islamischen Tradition heraus eine gewisse Offenheit, Toleranz und Verständigungsbereitschaft besteht. Im Koran werden die anderen sogenannten Buchreligionen Judentum und Christentum positiv gewürdigt. Das wird vergessen, wenn in der öffentlichen Diskussion der Eindruck entsteht, die stark religiösen Geflüchteten müssten immer fundamentalistisch, extremistisch oder ablehnend gegenüber anderen Religionen sein. Das stimmt so nicht unbedingt.
Welche Einstellung haben die muslimischen Jugendlichen gegenüber Nicht-Gläubigen?
Pirner: Dass Menschen keinen religiösen Glauben haben, kann sich die Mehrzahl der befragten Geflüchteten nur schwer vorstellen. Wir haben zum Beispiel gefragt, ob man ein moralischer und guter Mensch sein kann, ohne eine Religion zu haben. Immerhin bejahen das von 45 Befragten ganze 22. Aber zehn sagen auch Nein, und 13 sind unsicher und erklären, dass es nicht gut sei, keine Religion zu haben.
Bleibt das auch so nach längerem Aufenthalt in Deutschland?
Pirner: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass hier ein Lernprozess stattfindet. Denn in Spannung zu dem Ergebnis steht, dass 25 der Befragten nicht-religiöse Freunde haben. Das ist sogar noch bisschen mehr als diejenigen, die sagten, man könne ohne Religion glücklich und moralisch gut sein.
Wie bewerten die jungen Muslime ihre Möglichkeiten, ihre Religiosität in Deutschland zu leben?
Pirner: Die Gelegenheiten, bei uns in eine Moschee oder in einen orthodoxen Gottesdienst zu gehen, sind geringer als in ihrem Heimatland. Die fehlende religiöse Praxis stürzt manche in Zweifel, Verunsicherung, Unzufriedenheit bis hin zum schlechten Gewissen. Bei einigen brechen da innere Konflikte auf.
Besteht in solchen Fällen das Risiko einer Radikalisierung?
Pirner: Unsere Studie ist keineswegs repräsentativ, dennoch haben wir bei einigen wenigen eine intolerante Haltung anderen Religionen gegenüber festgestellt. Und wenn man sieht, welche Verunsicherung die fehlende Glaubenspraxis bei manchen bewirkt, kann man sich vorstellen, was ein extremistischer Prediger oder eine fanatische Glaubensgemeinschaft bei ihnen anrichten könnten. Die Verführungsmöglichkeiten sind bei solchen Menschen ausgeprägter, aber in unserer Studie betraf das nur eine Minderheit.
Wie akzeptiert fühlten sich die Zugewanderten mit ihrer Religion?
Pirner: Mehr als ein Viertel der Befragten gaben an, Diskriminierungen in der Schule erfahren zu haben. Es gab auch zwei Fälle, in denen Lehrer als rassistisch empfunden wurden, aber überwiegend wurden sie als tolerant und zugewandt erlebt. Vorwiegend waren es Diskriminierungserfahrungen mit Klassenkameraden. Dabei wurden besonders Mädchen mit Kopftuch Ziel der Diskriminierung, weil sie mehr auffallen.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihrer Studie?
Pirner: Wir haben festgestellt, dass es im gesellschaftlichen Diskurs eine Schieflage gibt: Die Bedeutung der Religion für Geflüchtete wird gleichzeitig überschätzt und unterschätzt. Überschätzt insofern, als die große Angst, die viele vor den Geflüchteten haben sich sehr häufig mit der Religion Islam und dem islamistischen Extremismus verbindet, so dass Geflüchtete per se mit Islamismus identifiziert werden. Das ist überzogen.
Andererseits wird die Bedeutung von Religion für die Lebensbewältigung und Integration total unterschätzt oder kommt kaum vor. Wenn es in der öffentlichen Diskussion um Religion und Geflüchtete geht, dann wird in aller Regel die negative Seite bespielt. Anliegen der Studie war es, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Religiosität auch eine positive Seite hat, die eine Ressource für Lebensbewältigung und Integration sein kann. Das lässt sich durch die Ergebnisse unserer Studie klar belegen.
Welche Konsequenzen würden Sie im Hinblick auf einen Islamunterricht an Schulen daraus ziehen?
Pirner: Die Studie zeigt deutlich, wie notwendig es ist, dass religiöse Bildung in den Schulen ernst genommen wird; deshalb plädiere ich für einen islamischen Religionsunterricht. Es ist wichtig, dass die muslimischen Kinder und Jugendlichen erfahren, dass ihre Religion in der Schule einen Platz hat, an dem sie sich ihrer selbst vergewissern können, aber auch Perspektiven erschlossen bekommen, wie sie ihre religiöse Orientierung mit der Offenheit einer pluralistischen und menschenrechtsorientierten Gesellschaft wie der unseren verbinden können.