Zusammen mit Mitautor und Herausgeber Werner Ertel zeichnet Liedtke ein spannendes Bild der bayerischen evangelischen Landeskirche nach dem Krieg – und ein Psychogramm des Musikers, das diesen in zwiespältigem Licht erscheinen lässt.
Der 90-jährige Max Liedtke ist dem Chor schon seit Anfang der 1950er-Jahre eng verbunden. Als ihn 1973 der Ruf an die Universität Erlangen-Nürnberg ereilte, habe auch die Nähe zu den Windsbachern eine Rolle für seine Entscheidung gespielt. Über 40 Jahre lang hatten den Pädagogen Probleme zwischen Knabenchor und Schulleitung sowie die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten auch beruflich beschäftigt, wodurch er tiefe Einblicke in das Innenleben der Windsbacher erhielt.
Der Chorleiter ohne Zeugnisse
"Der Chor hatte großes Glück, Hans Thamm als Chorleiter zu haben. Dessen Glück war aber noch größer", sagt Liedtke. Dessen Glück war aber noch größer", sagt Liedtke. Und belegt das gleich mit erstaunlichen Fakten: Weder in den Windsbacher noch in landeskirchlichen Akten hatte der 90-Jährige Belege über Schul- oder Studienabschlüsse gefunden, die über die konkrete musikalische Befähigung des Sachsen Aufschluss geben.
Auch wenn diese zweifelsohne vorhanden war, hatte Thamm als ehemaliger Sänger des Dresdner Kreuzchors doch eine fundierte Ausbildung genossen und war schon als junger Mann als Orgel- und Gesangsolist geachtet, konnte er augenscheinlich keine Zeugnisse oder Titel vorweisen, die schon damals als Qualifikation für einen entsprechenden Posten nötig gewesen wären.
Und mit einer dunklen Vergangenheit
Zudem hatte Hans Thamm, der im Alter von 25 Jahren die Leitung des Chors übernahm, bereits einen dunklen Fleck in seiner Vita: Wie Liedtke im Bundesarchiv recherchierte, war Thamm von 1941 bis Kriegsende Angehöriger der "Division Hermann Göring", einer Eliteeinheit der Deutschen Wehrmacht. "Dorthin wurde man nicht einfach berufen, man ging freiwillig hin", betont der Autor. Zeit seines weiteren Lebens hatte Thamm über diese Episode geflissentlich geschwiegen. Wohl auch, weil die Division wahrscheinlich an Kriegsverbrechen im Süden und Osten Europas beteiligt war.
"Thamm war hart gegen sich, aber auch hart gegen die Sänger"
Von teils militärischem Drill waren dann auch die Proben der Knaben geprägt. Liedtke berichtet von Stunden in stickigen Räumen, die aus Kostengründen nicht gelüftet wurden, bei denen Thamm mit Ausdrücken wie "Rauschquinten" und "faules Pack" um sich warf, wenn der Klang des Chors nicht seinen Vorstellungen entsprach. "Thamm war hart gegen sich, aber auch hart gegen die Sänger", meint Liedtke.
Gewalt war im Internat und im Chor noch bis Ende der 1960er-Jahre an der Tagesordnung. Nicht nur durch den Chorleiter, sondern auch durch die Direktoren oder Präfekten. Einer habe sich sogar mal als Pädophiler entpuppt und an die Jungen herangemacht, er wurde immerhin seines Postens enthoben.
Liedtke beschönigt nichts
Max Liedtke beschreibt diese Zeit und ihre Umstände teils ambivalent: Sowohl die Buben als auch deren Erzieher seien durch Jungvolk, Hitlerjugend, Arbeitsdienst oder Wehrmacht ideologisiert worden und hätten Gewalt als natürlich empfunden.
Zudem sei im Protestantismus eine Weltsicht angelegt, die von Erbsünde und Schuld ausginge, demnach der von Grund auf böse Mensch durch harte Erziehung auf den Weg zur Besserung gebracht werden müsse. Liedtke beschönigt nichts, relativiert aber vieles vor dem Zeitkolorit. Immerhin habe Hans Thamm ihm gegenüber noch kurz vor seinem Tod eingeräumt, "manchmal doch zu hart zu den Buben" gewesen zu sein.
Windsbacher Seifenoper
Stellenweise liest sich das Buch wie eine innerkirchliche Seifenoper mit Schauplatz Windsbach. Da ist von Ränkespielen und Machtpoker zwischen Dekanen, Internats- und Chorleitern die Rede, von immer wieder neuen Versuchen, aus den Windsbachern einen liturgischen Chor der Landeskirche zu machen, oder von Thamms alle paar Jahre neu aufgenommenem Kampf um ein eigenes Chorinternat in Nürnberg, das dem Vollblutmusiker mehr Raum zum Einstudieren der Musik gegeben hätte.
Berichtet wird, dass Hans Thamm eine Einladung ausgeschlagen hatte, Leiter des Dresdner Kreuzchors zu werden. Breiten Raum nehmen teils kuriose Episoden rund um die Knaben der 68er-Generation ein, die den Altvorderen mit Forderungen nach mehr Mitspracherecht oder durch einen ungezügelten Lebensstil stark zugesetzt haben.
Musik als das verbindende Element
"Das größte Erschrecken war die ungeheure Diskrepanz zwischen dem großartigen sozialen Anliegen Heinrich Brandts, 1837 ein Haus für verwaiste Pfarrerskinder einzurichten, und einigen Grundzügen seines Erziehungsprogramms, die sich noch bis in die frühe Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewirkt haben", zieht Liedtke ein Fazit.
Die Erziehungsmethoden würden nicht nur nach heutigem Verständnis elementaren Menschenrechten widersprechen, sondern könnten auch kaum "christlich" genannt werden. "Die Loslösung davon ging nicht von einem Tag auf den anderen und wäre sicher auch ohne Chor möglich gewesen, wenn sich das Pfarrwaisenhaus ohne Chor überhaupt hätte halten können. Aber der mühevolle Wandel zum Chorinternat hat faktisch kräftig geholfen, das Haus zu erhalten und auch einen neuen Geist einziehen zu lassen", sagt Liedtke.
Letztlich ging es aber in erster Linie um die Musik. Die war in allen Generationen das verbindende Element zwischen Chorleiter und Choristen, und die ließ ein starkes Band knüpfen, das manche Ohrfeige oder persönliche Verletzung in der Rückschau beim Gros der Sänger hintenanstehen lässt. Liest man Max Liedtkes Beschreibungen der letzten Jahre Thamms in Windsbach, wirkt dieser ausgebrannt und ahnend, dass die vergangenen Jahre Spuren hinterlassen hatten. Ein eigenes Kapitel mit einem Briefwechsel mit Werner Ertel lässt den Chorleiter noch einmal nahbarer werden.
Zum Jahreswechsel 1977/78 übergab Thamm den Dirigentenstab an Karl-Heinz Beringer, der diesen 34 Jahre lang halten sollte. Der noch amtierende Knabenchorleiter Martin Lehmann ist erst der Dritte in der mittlerweile über 75-jährigen Geschichte des Chors. Mit beiden führten die Autoren zudem Interviews zu Chorgeschichte und Gegenwart. Die Zukunft ist gerade vor dem anstehenden Wechsel am Pult wieder offen. Sicher ist aber: Dem Windsbacher Knabenchor werden die Geschichten nicht ausgehen. Und die Musik wird lange weiter klingen.