"Die Unzufriedenheit der Leute ist mit dem Abflauen der Pandemie nicht verschwunden."

Herr Raab, Sie forschen zu Verschwörungstheorien und beobachten die Entwicklung der "Querdenker-Bewegung". Erkennen Sie eine Zersplitterung der Bewegung angesichts wegfallender Corona-Maßnahmen?

Marius Raab: Die Corona-Proteste waren schon immer - das zeigen schon frühe empirische Untersuchungen - sehr heterogen. Da kamen Menschen ganz unterschiedlicher Weltanschauung auf den Marktplätzen zusammen. Wenn jetzt Corona unseren Alltag immer weniger bestimmt, ist eine Zersplitterung zu erwarten. Bei Themen wie Klima, Krieg, Energie und Migration haben unterschiedliche Weltanschauungen deutlich unterschiedlichere Ansichten als bei der Beurteilung der Corona-Maßnahmen. Die Unzufriedenheit der Leute ist mit dem Abflauen der Pandemie nicht verschwunden, aber die unterschiedlichen und tieferliegenden Gründe dafür kann man besser sehen, verstehen und auch angehen, wenn nicht mehr alles von Corona bestimmt wird.

Ein Mann mit langen Haaren und Bart vor einer Bücherwand
Marius Raab forscht und lehrt am Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er hat 2016 über ‚Experimentelle Ansätze zur Erforschung von Verschwörungstheorien‘ promoviert und ist Autor des Buches "Am Anfang war die Verschwörungstheorie". Seine Schwerpunkte als Psychologe und Informatiker sind Digitalisierung und Virtualisierung für mittelständische Unternehmen, Spiel und Gamification, Ästhetik und Verschwörungstheorien.

Werden sich durch Aktionen wie die Reichsbürger-Razzia mehr Menschen aus diesem Spektrum ins Darknet zurückziehen? Und was heißt das für deren politische Meinungsbildung künftig?

Die juristischen und politischen Hintergründe und Notwendigkeiten der Razzia kann ich psychologisch nicht bewerten - aber ich würde bei der Betrachtung auch die Erwartung vieler Menschen berücksichtigen, die von unserem Rechtsstaat Gefahrenabwehr und den Schutz der Demokratie erwarten. Aktivitäten im Darknet können natürlich problematisch sein, aber bei der Vermittlung der demokratischen Argumente sind Familie, Kollegen, Freunde und Bekannte viel wichtiger als digitale Plattformen. Das wäre die größere Gefahr: Wenn wir jeden, der mit solchen Ansichten einmal geliebäugelt hat, jetzt nach der Razzia pauschal abstempeln. Dann wird ein sozialer Rückzug dieser Menschen folgen und dann haben wir sie wirklich verloren.

"Krieg und Energiekrise sind ideologisch und emotional aufgeladen und eignen sich damit sehr gut, Menschen zu radikalisieren."

Erkennen Sie eine Radikalisierung und ein wachsendes Gewaltpotenzial bei denen, die weiterhin zu den "Querdenker"-Demonstrationen gehen?

Angesichts der schon genannten Zersplitterung scheint es zumindest bei einigen lokalen Gruppierungen so zu sein, dass politisch motivierte und ideologisch eher homogene Gruppen diese Proteste weiterführen und die etablierte Marke weiter nutzen. "Querdenken" 2021 hatte eine andere Dynamik und eine andere Klientel als "Querdenken" 2022 - und 2023 wird noch mal anders. Mit dem Wegfall praktisch aller Corona-Beschränkungen müssen andere Themen die Lücke füllen. Krieg und Energiekrise sind ideologisch und emotional aufgeladen und eignen sich damit sehr gut, Menschen zu mobilisieren und auch zu radikalisieren. Da muss man vor Ort genau hinschauen: Wer sind die Leute? Und wie groß ist die Gefahr, dass Gewalt angewendet wird?

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