In Yad Vashem brennen sechs Fackeln für die Millionen Ermordeten des Holocaust, Kränze werden niedergelegt, die immer weniger und immer älter werdenden Überlebenden erinnern an das, was war. Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie ist vieles anders. Viele Veranstaltungen können nicht wie üblich stattfinden. Doch es gibt das Internet und Videokonferenzen.

"Zikaron BaSalon" – Gedenken im Wohnzimmer – heißt eine Aktion zum Holocaust-Gedenktag, an der sich seit 2010 immer mehr Menschen beteiligen. Die israelische Google-Managerin Adi Altschuler (34) hatte vor zehn Jahren die Idee. Holocaust-Überlebende sind in kleinen, privaten Wohnzimmerveranstaltungen zu Gast, erzählen ihre Geschichte. Es werden Lieder gesungen oder Gedichte vorgetragen, man kann die Zeitzeugen befragen und darüber diskutieren, was das Gehörte ausgelöst hat, für die Zukunft bedeutet.

Letztes Jahr, sagt Dana Sender-Mulla von Zikaron BaSalon, haben 1,5 Millionen Menschen in 54 Ländern weltweit teilgenommen. "Jede Geschichte zählt", sagt sie, "wir machen kein Casting. Jede und jeder Überlebende soll gehört werden. Denn Geschichte ist persönlich." Weil die hochbetagten Zeitzeugen besonders gefährdet sind, muss im Corona-Jahr 2020 alles online geschehen.

Dana Sender-Mulla, eine der Organisatorinnen der Initiative "Zikaron BaSalon" - Gedenken im Wohnzimmer.
Dana Sender-Mulla, eine der Organisatorinnen der Initiative "Zikaron BaSalon" - Gedenken im Wohnzimmer.

Immer mehr Zeitzeugengespräche finden auch mit den Kindern und Enkeln der Überlebenden statt. Doch noch sind die Überlebenden unter uns, betont Mirjam Zadoff vom Münchner NS-Doku-Zentrum. In Israel leben noch knapp 190 000 Holocaust-Überlebende, aber 90 000 auch in New York, viele von ihnen in bitterer Armut, sagt Zadoff.

Das von Zadoff geleitete NS-Dokumentationszentrum, die Alfred Landecker Foundation und das israelische Generalkonsulat haben bei Zikaron BaSalon ebenfalls mitgemacht. Zwar nicht mit Zeitzeugen, aber mit einer Veranstaltung über die "Situation und die Würdigung von Zeitzeugen in Zeiten von Corona".

Die Landecker-Stiftung mit Sitz in Berlin wurde im vergangenen Jahr von der deutschen Unternehmerfamilie Reimann gegründet. Sie unterstützt Holocaust-Überlebende und fördert Bildungsprojekte.

Rund eine Million Menschen haben sich dieses Jahr für die Online-Veranstaltungen von Zikaron BaSalon registriert, sagt Dana Sender-Mulla. In Israel lud die 84-jährige Leah Hasson per Videokonferenz in ihr Wohnzimmer in Ramat Gan ein. Sie war fünf, als die Deutschen ihre Heimat überfielen. Geboren wurde Leah Hasson in Czortków in Galizien. Das gehörte damals zu Polen, heißt heute Tschortkiw und liegt in der Ukraine. Wenig erinnert dort noch daran, dass ein Drittel der Bewohner einst Juden, die Stadt auch ein bedeutendes "Shtetl" war.

Leah Hasson und ihre Eltern Chaim und Rozia Schwartz. Das Foto entstand kurz vor dem Krieg.
Ihren Vater holten sie als einen der ersten: Leah Hasson und ihre Eltern Chaim und Rozia Schwartz. Das Foto entstand kurz vor dem Krieg.

"Die Juden wurden ghettoisiert und 1942 in der Nähe der Stadt erschossen", vermerkt die deutsche Wikipedia lapidar. Die jiddische Version des Online-Lexikons weiß mehr: "Am 26. August 1942, um 2.30 Uhr, begann die deutsche Polizei, die Juden aus ihren Häusern zu vertreiben. Sie teilten sie in Gruppen von 120 Personen auf, verfrachteten sie in Güterwaggons und deportierten so 2000 Juden in das Vernichtungslager Belzec." Von den 10.000 Juden Czortkóws lebten nach dem Krieg nur noch 80, berichtet Leah Hasson am Telefon. Dass sie und ihre Mutter der Hölle entkamen, ist wie ein Wunder. Auf welchen fürchterlichen Pfaden, durch polnische Wälder und galizische  Baumwollfelder, in Höhlen oder einem Schweinestall, das lässt sich nicht in wenigen Zeilen schildern.

Als Feiglinge verachtet

Über ein Flüchtlingslager in Breslau kamen sie am 11. August 1948 in Palästina an, mitten hinein in den Israelischen Unabhängigkeitskrieg. An ihre Kindheit im Kibbuz Mizra hat Leah Hasson gemischte Erinnerungen. Es hallen auch Verletzungen nach: Die Überlebenden aus Europa stießen zunächst auf wenig Verständnis. "Die Sabras, die in Palästina geborenen Israelis, ich will nicht sagen: sie hassten, aber sie verachteten uns", sagt Hasson. "Sie beschimpften uns als Feiglinge, warfen uns vor, wir hätten nicht gekämpft, uns nicht verteidigt."

"Corona werden wir überleben, so oder so", sagt Leah Hasson. Und vielleicht helfe die Pandemie ja dabei, "dass ein paar Menschen verstehen, dass es keine Ansprüche darauf gibt, dass alles immer gut und perfekt ist. Ich war als Kind auch eine verzogene, verwöhnte kleine Prinzessin, so hübsch und so klug – und plötzlich war ich im Ghetto."

Wenn es damals geschehen ist, kann es wieder passieren, weiß die Überlebende Leah Hasson. "Wenn ich Flüchtlinge sehe, Arme, Hungrige, Leidende – dann bin ich eine von ihnen und fühle mich ihnen verbunden", sagt sie. "Wir sollten uns vor der Gier und der Ignoranz hüten. Ich habe keine lange Zukunft mehr vor mir, aber die Zeit, die mir noch bleibt, will ich nutzen, um daran zu erinnern."

Bei einer Wohnzimmer-Gedenkveranstaltung im Rahmen von Zikaron BaSalon 2019 in Berlin.
Bei einer Wohnzimmer-Gedenkveranstaltung im Rahmen von Zikaron BaSalon 2019 in Berlin.

Yom HaShoah

Erstmals 1951 begangen, wurde der israelische Holocaust-Gedenktag vom Gründungspremier Israels, David Ben Gurion, 1959 zum Nationalfeiertag erhoben und auf den 27. Nisan gelegt. In "unserem" Kalender fällt dieser Tag nicht immer auf dasselbe Datum, weil der nach dem Mond berechnete jüdische Lunisolarkalender und der gregorianische Kalender voneinander abweichen. Dazu kommt, dass Trauertage nicht auf den Schabbat fallen oder an diesen angrenzen sollen. Im vergangenen Jahr war der Yom HaShoah am 2. Mai, im kommenden Jahr wird der Gedenktag am 8. April begangen. 2020, 75 Jahre nach dem Ende der Shoah und dem Selbstmord des Massenmörders Adolf Hitler in Berlin, begann der Holocaust-Gedenktag "ausgerechnet" am Abend des "Führer-Geburtstags" (20. April), den die Deutschen einst mit Inbrunst feierten.