Pro: Soziales Pflichtjahr hätte positive Wirkung – persönlich und gesellschaftlich

Mein einziger Gedanke während den Abi-Prüfungen war immer "Wann ist es endlich vorbei?" Das befreiende Gefühl nach meiner letzten Prüfung im Mai hielt jedoch nicht lange an. Ich fragte mich "Was nun?"

Nach langer Überlegung zwischen Studium, Ausbildung oder ein Jahr Pause, habe ich mich für den Bundesfreiwilligendienst entschieden und muss zugeben – das war einer der besten Entscheidungen, die ich bisher getroffen habe.

Meiner Meinung nach sollte ein soziales Jahr Pflicht sein. Jedoch unter einer Bedingung: Es müssten mehr Unternehmen das freiwillige Jahr anbieten. Ich habe das Glück, dass ich mein freiwilliges Jahr beim EPV machen darf, da ich hier Aufgaben erledige, die mich interessieren und mir Spaß machen.

Wenn ich daran denke ein verpflichtendes soziales Jahr im Krankenhaus oder im Kindergarten machen zu müssen, würde ich mich wahrscheinlich eher für die Contra-Seite entscheiden. Wenn es mehr Auswahl gäbe, könnten alle Absolvent*innen der Schule genau das tun, was ihnen Spaß macht oder was sie interessiert. Durch dieses Jahr sammeln sie nicht nur Erfahrungen in einem Vollzeitjob, sondern finden auch heraus, ob sie später in diesem Bereich arbeiten wollen oder nicht. (Lisa Brun)

"In diesem Jahr kann man lernen, wie wichtig es ist, sich auch für die Gesellschaft einzusetzen und nicht nur an sich selbst zu denken."

Aber das soziale Pflichtjahr kann nicht nur der eigenen Entwicklung und Berufsorientierung guttun. Es hat auch positive Auswirkungen auf die Gesellschaft im Allgemeinen. Man kann anderen helfen, die Hilfe brauchen.

In der heutigen Zeit achten viele Menschen nur auf sich selbst und handeln danach, wie man für das eigene Leben etwas Positives erzielen kann. In diesem Jahr kann man lernen, wie wichtig es ist, sich auch für die Gesellschaft einzusetzen und nicht nur an sich selbst zu denken. Man begegnet Menschen in vielen Bereichen und lernt mit verschiedensten Situationen umzugehen. Aus diesem Sozialen Pflichtjahr kommen Menschen hervor, welche sich für die Gesellschaft interessieren und einsetzen.

Auch die Podcaster Tommi Schmitt und Felix Lobrecht erzählen in ihrem Podcast "Gemischtes Hack" über ihre Zeit im einjährigen Zivildienst und berichten, wie sehr sie dadurch in eine positive Richtung gelenkt wurden. Laut eigener Aussagen hat das Jahr ihnen geholfen, sich mehr für die Gesellschaft zu interessieren und zu engagieren. (Veronika Bonk)

Contra: Ein soziales Pflichtjahr löst unsere Probleme nicht

Mich macht die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr wütend. Jetzt sollen also junge, unerfahrene Leute eins unserer drängendsten Probleme lösen: den Fachkräftemangel im Pflegebereich. Das erinnert mich sehr an meinen eigenen Zivildienst, den ich Ende der Neunziger in einer schwäbischen Kleinstadt absolviert habe.

Dabei habe ich viel gelernt – sicher, auch Positives. Aber leider auch das: Die Gesellschaft ist nicht bereit, genug Geld in die Hand zu nehmen, um sich angemessen um Alte, Kranke und Pflegebedürftige zu kümmern. Das war schon 1997 so, bis heute hat sich daran nichts geändert. 

"Gegen den Fachkräftemangel helfen bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen – und nicht die Rekrutierung von schlecht bezahlten, unausgebildeten jungen Leuten."

Damals wurden ich und meine Kollegen verheizt, um ein paar Löcher zu stopfen. Wir mussten Dinge tun, für die wir weder ausgebildet noch qualifiziert waren: Spritzen geben, zum Beispiel. Oder Patienten betreuen, die unter schweren Halluzinationen litten. Mein negativer Höhepunkt war, als ich bei einem Fahrdienst eine ältere Frau ins Pflegeheim bringen musste – gegen deren erklärten Willen. Als sie kapierte, dass sie dort bleiben sollte, klammerte sie sich an meinen Arm. 

Kurzum, wir waren mit den harten Realitäten des Pflegeberufs weitgehend überfordert. Da ein Zivi aber billiger als ein*e ausgebildete*r Pfleger*in war, waren wir für viele die einzig erschwingliche Möglichkeit. 

Und genau das droht bei der Einführung eines sozialen Pflichtjahrs auch: Junge Menschen werden als billige Arbeitskräfte missbraucht, weil es keine Bereitschaft gibt, genügend Geld in die Pflege und Betreuung zu stecken. Gegen den Fachkräftemangel helfen bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen – und nicht die Rekrutierung von schlecht bezahlten, unausgebildeten jungen Leuten, die entweder frisch von der Schule kommen oder, falls sie kein Abitur machen, aus Ausbildung oder Beruf gerissen werden. (Oliver Marquart)

 

Kommentare

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Robert am Sa, 25.03.2023 - 15:29 Link

Ich möchte auf die rechtlichen Aspekte hinweisen. Ein soziales Pflichtjahr wäre Zwangsarbeit, der nicht nur unser Grundgesetz (Art. 2: Handlungsfreiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 12: freie Berufswahl) entgegensteht, sondern auch internationale Verträge, allen voran Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er verbietet Zwangs- und Pflichtarbeit, mit nur wenigen Ausnahmen. Ein Pflichtjahr gehört nicht dazu.
Ein Rechtszwang stünde im Widerspruch zu dem freiheitlichen Anspruch unserer Demokratie (lesenswert hierzu: das sogenannte Böckenförde-Diktum).
Und: 18 Jahre haben Eltern, Schule und Institutionen Zeit, Kinder und Jugendliche sozial zu motivieren. Das ist ein Viertel eines Durchschnittslebens. Und erwachsen werden heißt auch, nach und nach in immer höherem Grade sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten, anstatt von Staats wegen zu Arbeit verdonnert zu werden (auch wenn sie gut gemeint ist), unter Androhung von Geld- oder Gefängnisstrafe bei Verweigerung, denn darauf wird es ja sicher hinauslaufen.

"In der heutigen Zeit achten viele Menschen nur auf sich selbst"? Wir sollten uns nicht von gefühlten Wahrheiten leiten lassen. Wir haben in Deutschland an die 30 Millionen ehrenamtlich Tätige. Und daß wir ca. 100 000 Freiwillige in den derzeit angebotenen Diensten (FSJ, Bufdi etc.) haben, trotz des beschämend wenigen Geldes, das sie dafür bekommen, ist doch auch kein schlechter Schnitt.