Es ist Anfang Februar. Im Prozess gegen den sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrund" NSU hat Yvonne Boulgarides das Wort als eine der letzten Zeuginnen der Nebenklage. Wenn sie spricht, ist der große Schmerz um den Verlust ihres Mannes in jedem Wort hörbar. Theodoros Boulgarides wurde im Juni 2005 mit drei Schüssen in den Kopf ermordet. In seinem Schlüsseldienst-Laden im Münchener Westend. Nach dem Willen seiner Mörder gehörte er als Grieche nicht in dieses Land, genauso wenig wie die 9 anderen Männer türkischer Abstammung, die sie heimtückisch getötet haben. Frau Boulgarides ist hier mit ihren beiden Töchtern, die damals erst Teenager waren. Er hätte seine Mädchen gerne zum Traualtar geführt, seine Enkeltochter mit Großvaterstolz in den Armen gehalten erzählt sie dem Gericht.

Doch diese tiefe Trauer ist nicht die dunkelste Stelle im Leben dieser Frau. Ihr Mann und die ganze Familie werden während der Ermittlungen von der Polizei kriminalisiert– Menschenhandel wird ihm angedichtet, Drogengeschäfte. Das völlig unschuldige Opfer soll also ein Täter sein. Eine Ermittlungsstrategie über ganze 10 Jahre in allen 10 Mordfällen des NSU. Und nun im zu Ende gehenden Prozess offenbart sich die dritte tiefe Erschütterung der Yvonne Boulgarides. Alle Hoffnung auf gründliche Aufklärung ist dahin, Akten vom Verfassungsschutz sind verschwunden und niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Sie sei entsetzt über diesen Staat, sagt sie. Denn dieser Prozess sei wie ein oberflächlicher Hausputz. "Um der Gründlichkeit genüge zu tun, hätte man die Teppiche aufheben müssen, unter die so vieles gekehrt wurde", so beschreibt sie das. (Süddeutsche Zeitung, Nr.33, 8.2.2018, S.5, Artikel "Menschliche Größe" von A. Ramelsberger, W. Ramm.)

Am kommenden Dienstag geht der NSU-Prozess nach fünf Jahren in die Schlussrunde. Wenn an diesem Tag die Verteidigung mit dem Plädoyer für Beate Zschäpe beginnt, sind alle Ermittlungen abgeschlossen. Wie viel Chance wird das Recht haben?

Passionsgeschichte als Spiegel menschlicher Urerfahrungen

Was hier passiert ist und wie Frau Boulgarides die Dinge schildert, erschüttert auch mein Vertrauen. Es sind zehn Familien betroffen, über hundert Menschen und ihre Freunde und Nachbarn. Erfahrungen, für die die Passionsgeschichte Jesu  eine Sprache gefunden hat. "Der Gerechte muss leiden" heißt so ein Satz. Die Urgeschichte des unschuldigen Opfers wird da erzählt. Die Strippenzieher, die Aufwiegler, Verräter, Ankläger, Falschaussager – alle werden aufgezählt und manchmal auch beim Namen genannt. Die Geschichte gibt ihnen nicht recht. Und doch laufen die Ereignisse wie ferngesteuert ab. Präzise wie ein Räderwerk türmt sich Verhängnis auf Verhängnis, Unrecht auf Unrecht. Das größte Verdienst der Passionsgeschichte aber ist es, kleine Szenen zu erzählen und in die Tiefe zu gehen, da wo die Ereignisse gedeutet werden, im Geist und in der Seele dessen, der sie erleidet. Eine dieser kleinen Szenen spielt sich in der Nacht ab, im Garten Gethsemane. Beim Evangelisten Lukas endet diese Szene mit den Worten: "Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis." Jesus sagt das zu denen, die ihn gefangen nehmen. Die Macht der Finsternis - ein Bild für die tiefste Erschütterung, der ein Mensch ausgesetzt sein kann. Ich kann mir keine größere vorstellen. Es ist der Moment, wo ein Mensch sich ausgeliefert fühlt an eine Macht, die alles ins Gegenteil verkehrt, das Gute böse erscheinen lässt und das Böse gut.

Frau Boulgarides hat in ihrer Aussage vor dem Gericht nicht über Gott gesprochen. Mir aber stellt sich die Frage nach Gott, wenn ich ihr zuhöre. Und ich habe den Eindruck, unsere Sprache, meine Sprache reicht nicht aus, um von Gott hier angemessen zu reden. Es ist zu groß, was da passiert. Auch Gott ist zu groß. Alle Kategorien versagen. Ob Gott es zulässt, ob es sein Plan ist – wie an manchen Stellen der Passionsgeschichte von einem "Muss" die Rede ist "Der Menschensohn muss leiden". Ein von Gott gewolltes Muss? Das kann ich nicht glauben Das ist zynisch. Wenn die Finsternis Macht bekommt, komme ich ins Stocken. Etwas verstummt in mir und das ist die Erfahrung vieler, die an Gott hängen. Es ist die Erfahrung von Gethsemane.

Für mich ist dieses Verstummen in den Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach hörbar. Etwa in seiner Suite in d-moll, die er nur für ein Instrument, für Geige solo aufschreibt. Da hört man deutlich, dass die Töne und Melodie aus der Stille kommen, aus dem Nichts. Im Jahr 1720 kehrt Bach von einer Reise zurück und ihm wird mitgeteilt, dass seine Frau in dieser Zeit verstorben sei, er kann nur noch ihr Grab besuchen. Dann schreibt er eine Musik, bei der man immer wieder hört, dass sie aus diesem Schock heraus entstanden ist, und sie wurde ein musikalisches Grabmal für seine Frau.

Ein Engel in Gethsemane

Und Jesus ging nach seiner Gewohnheit hinaus an den Ölberg. Es folgten ihm aber auch die Jünger. Und als er dahin kam, sprach er zu ihnen: Betet, damit ihr die kommende Prüfung besteht. Und er riss sich von ihnen los, etwa einen Steinwurf weit, und kniete nieder, betete und sprach: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er geriet in Todesangst und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen. Und er stand auf von dem Gebet und kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend vor Traurigkeit und sprach zu ihnen: Was schlaft ihr? Steht auf und betet, damit ihr die kommende Prüfung besteht! (Lk 22,39-46)

Die Gethsemanegeschichte taucht in den ersten drei Evangelien auf. Bei Matthäus und Markus allerdings etwas ausführlicher als hier bei Lukas. Das Gespräch Jesu mit seinen Freunden und auch sein Ringen mit Gott bekommen da mehr Raum. Der Ölberg ist ein ganz besonderer Ort. Von hier oben aus kann man die ganze Stadt Jerusalem mit ihren Mauern und Toren und ihrem Tempel sehen. Jesus hat sich an diesen Ort zurückgezogen, von dem er mit einem Blick die letzten Stationen seines Lebens sehen kann. Es ist Nacht. Er läuft hin und her, zieht sich zurück ins Gebet und sucht dann wieder den Kontakt mit den Freunden. Wie einer, der nicht mehr weiß, wohin mit sich. Es gibt kein Entrinnen. Nirgendwo ist mehr Ruhe zu finden.  "Wachet und betet, damit ihr die kommende Prüfung besteht!" bittet er seine Freunde im Matthäusevangelium dreimal. Und auch mit Gott ringt er dreimal: "der Kelch soll vorüber gehen!" So heißt es dort am Anfang, am Ende aber "wenn das nicht möglich ist, geschehe dein Wille".

Zagen und Betrübtsein bis an den Tod in allen drei Evangelien. Lukas aber setzt noch einen anderen Akzent. Er lässt einen Engel erscheinen, der Jesus stärkt im Ringen mit Gott, im Ringen um Worte. Den Freunden sind die Worte ja ausgegangen. Sie schlafen, sie fliehen in den Schlaf. Es ist zu groß, es ist zu schwer, was sie durchmachen. Ja, es sind Menschheitsgeschichten, die hier erzählt werden. Jeder kann sich darin wiederfinden, wenn er mit Ängsten ringt und sich schutzlos ausgeliefert fühlt. Dass im Lukasevangelium an dieser Stelle der Engel auftaucht, ist ein Signal, ein Ausrufezeichen, wie ein Schild, auf dem "Achtung!" steht. Wenn Engel auftauchen in biblischen Geschichten, eröffnet sich noch nicht Dagewesenes. Dann ist Gott nahe und mutet sich diesen Menschen zu auf eine Weise, die sie bisher nicht gekannt haben. Engel sind Geburtshelfer eines neuen Gottesbewusstseins. Sie trösten und helfen, sich dem Unbekannten, Unbegreiflichen in die Arme zu werfen. "Dein Wille geschehe". Ich glaube, dass Engel uns helfen, so zu beten, wann immer wir es tun müssen.

Die Macht der Finsternis

Aber hier nimmt die Gethsemane-Geschichte eine Wendung, die der tragischste Moment in der Passion Jesu ist. Nicht der Schrei Jesu am Kreuz "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!" ist die dunkelste Erfahrung. Schlimmer, als von Gott verlassen zu sein, schlimmer als dass Gott in die Ferne rückt, ist dieser Gethsemanemoment: Gott und das Böse sind nicht mehr auseinanderzuhalten. Die Finsternis übernimmt die Macht. Man weiß nicht mehr, wessen Wille geschieht.

Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. (Lk 22, 47-53)

Was sind die Machenschaften der Finsternis? Was ist das für eine Macht? Die Geschichte spielt mit dem Gegensatz Tag und Nacht, aber das greift zu kurz. Nacht ist nicht gleich Finsternis. Nacht heißt Ruhen und Stille und sich vertrauensvoll in den Schlaf fallen lassen. Nacht heißt träumen und flüstern und lieben. Nacht ist ein Schutzraum des Lebens. Zur Finsternis wird sie, wenn die offene Auseinandersetzung bei Tageslicht gemieden wird, wenn die Feindbilder im Kopf der Menschen sich austoben und nicht mehr korrigiert werden. Jesus hat öffentlich geredet, doch der intensiven Auseinandersetzung mit ihm haben sich wenige gestellt. Man hat die Heimtücke vorgezogen, man hat auf Nummer sicher gehen wollen, dass diese Stimme ausgelöscht wird und da ist das offene Gespräch ein Hindernis. Das ist Finsternis, wie der Nationalsozialistische Untergrund sie verbreitet hat in unserem Land. Bloß kein Gespräch, bloß nicht den Menschen sehen. Bloß nicht sich auf dieses ungewisse Terrain begeben von Zuhören, nachfragen, deuten und nicht weiter wissen. 

Es kommt noch etwas hinzu: Ambivalenzerfahrung nennt es die Psychologie. Die Dinge im Griff, entschlossen, klar, mit einem Lebensplan und am liebsten mit einem Plan für die ganze Welt. So wären wir gerne. Sind wir aber nicht. Wir stecken voll widersprüchlicher Gedanken, Gefühle und Wünsche. Wir bringen es fertig, ein und denselben Menschen zu lieben und zugleich abzuurteilen, zu verabscheuen, zu hassen. Nichts sehnlicher als dies eine wünsche ich mir und dann ist es greifbar nahe und ich will es nicht mehr, hab Angst und verstehe überhaupt nicht mehr, wieso ich mir das wünschen konnte. Widersprüchliche Gefühle, widersprüchlich aber auch unser Denken: Wir fordern Kriegseinsätze aus humanitären Gründen und verurteilen uns gleichzeitig dafür, weil wir überzeugte Pazifisten sind. So sind wir. Die gute Nachricht ist – solange wir das sind, sind wir gesund. Und so lange wir uns das gegenseitig zugestehen, dass wir so sind, können wir in guten Beziehungen leben. Wer Entweder-Oder denkt und Schwarz-Weiß, der wird immer etwas bekämpfen müssen bei sich selbst, bei anderen. Wenn es hart kommt, vernichten müssen. Auch so zeigt sich die Macht der Finsternis. 

Und so ist es mit Gott. Wer Gott auf einen Nenner bringen will, auf Eindeutigkeiten festnageln, der wird scheitern. Das ist die Suchbewegung Jesu in Gethsemane. Gott wird kommen und gehen. Wird da sein und sich zurückziehen, unverfügbar sein. Wird verlassen und tragen. Gott wird das Licht sein, das in der Finsternis scheint und man kann das eine nicht ohne das andere denken oder begreifen, Licht nicht von Finsternis trennen. So wird unser Reden mit Gott immer wieder vom Verstummen begleitet sein. Weil wir erschrecken vor dem, was geschieht.  Weil wir nie das Ganze sagen und verstehen können.

Gott ist zu viel für uns

Es passiert während eines Gottesdienstes, mitten im Gespräch des Pfarrers mit Gott. Als er Gott bittet, nahe zu sein, unterbricht die alte Polin aus der Nachbarschaft den Pfarrer in seiner Liturgie. Sie fällt um, krachend auf die Kirchenbank, "getarnt mit dem verzeihlichen Sekundenschlaf einer Achtzigjährigen". So erzählt es Christian Lehnert in seinem Buch "Der Gott in einer Nuss". Am Sonntagnachmittag erzählt die Frau ihm, dem Dorfpfarrer dann ihre Geschichte mit Gott: "Was haben Sie da gesagt? Nähe? Sie beteten um Gottes Nähe? Er soll nahe sein? Wissen Sie, was Sie da wollen?"( Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuss. S.22 und 23)

Es ist ein Herbsttag im Jahr 1939 in Polen. Die Familie ist auf dem Acker beim Rübennachlesen. Und die junge Frau sieht plötzlich am Waldrand die deutschen Panzer anrollen wie stählerne Tiere. "Ich warf mich hin, legte mich flach in das teils schon ausgepflügte Feld und betete, betete um Bewahrung, um Gottes Nähe, um seine rettende Hand. Und ich fühlte plötzlich eine seltsame innere Sicherheit – wie ein warmes Licht, das mich einschloss. Gott ist nah, dachte ich, fühlte ich tief in mir. Wie entrückt war ich in dem bedrohlichen Lärm, hörte nichts, sah nichts, war geborgen in einem Trost, der nicht von dieser Welt war." Später wird sich diese Frau ein Leben lang fragen, ob das schlicht naiv war, sich so von Gottes Nähe umgeben zu glauben. Denn am nächsten Tag fanden sie auf dem Nachbarhof alle Menschen ermordet, darunter ihre beste Freundin. "Warum lebte ich und die anderen nicht?...Wenn Gott nahe ist, geschehen Dinge, die den Menschen übersteigen. Gott ist zuviel für uns…"

Wie erzählt man von der eigenen Rettung, ohne die zu verschweigen, die nicht gerettet wurden? Wie kann man sie einschließen? Was kann man da sagen? Wie kann man was sagen? Wie kann man von Erlösung reden, wenn ein geliebter Mensch nach kurzer schlimmer Krankheit stirbt, wo doch sein Leben so abgerissen wurde und seine Lieben fast zerbrechen unter dieser Leere, die er hinterlassen hat? Gott entzieht sich dem Sagbaren.

In seiner berühmten Chaconne aus der schon erwähnten Violinpartita drückt Bach genau dieses Vielstimmige, Widersprüchliche aus, das einen Menschen quälen, zerreißen kann. Das Widersprüchliche, das auch ins Gespräch mit Gott hineingehört.

Ein Stück von Gott in uns retten

"Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt". Diesen Satz schreibt Etty Hillesum, eine jüdische Schriftstellerin,  in den Jahren zwischen 1941-1943 in ihr Tagebuch. Ihr Leben und das ihrer Familie ist da schon geprägt durch Arbeitsverlust, Repression und vom Kampf um die eigene Menschenwürde. Mit nur 29 Jahren wird sie im November 1943 in Auschwitz ermordet. Sie entdeckt Gott mitten in der grausamen Wirklichkeit. Wie ein Maler, der vor einem grauen trüben Meer sitzt und es trotzdem blau malen wird, so fügt Etty der Realität etwas hinzu, was der Mensch nicht macht, nicht verfügbar hat, und was doch eine Möglichkeit in ihm selbst ist. Gott, der sich zu verbergen scheint, ereignet sich doch als der ganz andere. "Gott ist uns keine Rechenschaft schuldig" formuliert diese junge Frau, "wohl aber wir ihm!" Und ein paar Seiten weiter: "Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt…. ….dies eine wird mir immer deutlicher; dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt; ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen." (Etty Hillesum, Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Reinbek bei Hamburg, 1985; S. 149)
 
Die klassische Theologie hat Wege formuliert, wie man mit der Macht der Finsternis leben kann. Sich flüchten vor dem dunklen, verborgenen Gott in die Arme des Vaters, wie Jesus ihn anruft und in dessen Willen er sich ergibt. Die Stimme von Etty Hillesum geht noch weiter. Sie wagt es, Ich zu sagen und anstelle von bereits Gedachtem, von bereits Festgelegtem und Beurteiltem. Sie wagt es, etwas anderes zu sagen und zu denken. Von Gott so anders zu reden, weil zwischen ihr und Gott nichts steht und weil sie sich in diese gefährliche Nähe ganz hineingibt. Für mich ist das die Spur des Glaubens, der ich folgen will. Ein Stück von Gott in uns zu retten.

Und das hat  auch Yvonne Boulgarides getan. Während  ihrer Aussage im NSU Prozess hat sie auch von der Begegnung mit dem Mann erzählt, der den Tätern die Mordwaffe beschafft hat. Ihre Töchter und sie wollten Carsten S. treffen, der damals 20 Jahre alt war, überzeugt rechtsradikal und stolz darauf, mit seinen großen Idolen, dem NSU-Trio Zschäpe, Mundlos und Bönhardt Kontakt zu haben. Es sei der schwierigste und emotionalste Moment in ihrem Leben gewesen, diesen Mann zu treffen und das offene Gespräch zu suchen. Und dann hätten sie einen Menschen erlebt, der heute bereut, was er getan hat. Er habe ein Gewissen. Er habe ein Unrechtsbewusstsein und sei zur Reue fähig. Und so kommt es, dass Frau Boulgarides vor dem Gericht zur Fürsprecherin des Mannes wird, der mitgeholfen hat, dass ihr Mann getötet wurde. Sie sagt: "Wir wünschen uns, dass ihm sein Strafmaß die Möglichkeit gibt, sein Leben in positive Bahnen zu lenken." (SZ Nr. 33, a.a.O.)

Ja, wir können der Finsternis Werke des Lichts abtrotzen. Wir können den Mächten des Bösen Gutes entgegenhalten. Das ist die großartige Geschichte Gottes mit uns Menschen. Wir können ein Stück von Gott in uns retten. Wir können Gott helfen, dass er uns nicht verlässt. Der Himmel helfe uns dazu.

"Heaven help us all” singt Ray Charles. Der Himmel helfe dem Kind, das nie ein zu Hause hatte. Der Himmel helfe dem schwarzen Mann in seinem täglichen Kampf und dem weißen, wenn er sich achtlos abwendet. Der Himmel helfe dem Jungen, der nicht mehr volljährig wird und er helfe dem Mann, der dem Jungen eine Waffe gab. Der Himmel helfe uns allen!