"Im Alten Testament ist Sexualität ein natürlicher Teil des Menschseins, der gelebt werden soll."

Wie interpretiert die evangelische Theologie menschliche Sexualität und auch Intimität im Kontext von Pornografie oder pornografischer Kultur?

Uta Schmidt: Also, die Sache ist die: Es gibt keine feste, einheitliche evangelische Theologie. Was ich hier erzähle, basiert auf meiner eigenen Sichtweise und Erfahrung. Wenn wir über Sex reden, ist eine der zentralen Fragen: Wie sieht das ethisch aus? Das ist ein Kontext, in dem man das beleuchten kann. Und dann geht's darum, welche Form von Sexualität wir eigentlich meinen.

Generell betrachtet die evangelische Theologie Sexualität als etwas Positives, das zum Menschsein dazugehört und akzeptiert werden sollte. Ich bin vor allem im Alten Testament unterwegs und da wird klar gesagt, dass Sexualität ein natürlicher Teil des Menschseins ist, der gelebt werden soll. Das ist ein wichtiger Punkt, den man erstmal klarmachen muss. Sex an sich ist also nichts Schlechtes.

Die Sache mit Intimität ist interessant. Die Art und Weise, wie Intimität und Sexualität betrachtet wurden, hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Heutzutage ist die Frage, wie Intimität in der Gegenwart aussieht, immer noch ein bisschen kompliziert. Ein roter Faden dabei ist, dass die Würde der Person und der Schutz der Schwachen eine große Rolle spielen.

Wenn es um die evangelische Theologie und die heutige Kultur der Pornografie geht, wird's knifflig. Es hängt stark davon ab, wie man sich vorstellt, wie Sexualität gelebt werden sollte. Auch die vielen Facetten von Pornografie spielen dabei eine Rolle. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Thema Sexualität in der evangelischen Theologie vielschichtig ist. Es geht um Geschichte, Ethik und wie sich unsere Kultur entwickelt hat.

Gibt es bestimmte Bibelstellen, auf die man eine Bewertung von Pornografie stellen könnte? Immerhin existierte sie schon in der Antike, oder?

Wenn wir über Pornografie sprechen – also über visuelle Medien oder vielleicht auch Texte, die gemacht werden, um Lust zu erzeugen –, wissen wir im Grunde nie genau, was die Menschen damals wirklich beabsichtigt haben. Aus der Antike wurden oft Darstellungen mit sexuellem Inhalt gefunden, wie Nacktheit oder Geschlechtsverkehr. Beispiele gibt es aus dem alten Ägypten, dem Orient und der Region von Israel/Palästina. Interessanterweise gibt es diese Zeugnisse, unter anderem auch von syrischen Göttinnen, die nackt und ansprechend dargestellt wurden. Das verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit Nacktheit nicht erst eine Erfindung der Moderne ist.

In den alttestamentlichen Texten, die oft zitiert werden, wenn es um die Würde und die Gleichheit von Personen geht, kommt beispielsweise in der Genesis vor: 'Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und männlich und weiblich schuf er sie.' Dabei betont die Schöpfungsgeschichte die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, wobei sogar diskutiert wird, ob 'männlich und weiblich' auch als eine Art Vielfalt zu verstehen ist. Das würde bedeuten, dass die Bibel nicht nur auf binäre Geschlechterverhältnisse beschränkt ist, sondern die gesamte Bandbreite menschlicher Identität einschließt.

"Ethik muss klare Richtlinien haben, während Literatur und Kunst nicht unbedingt eindeutig sein müssen."

Und was folgt aus diesen Texten?

Aus diesen Texten leitet sich ab, dass alle Menschen – ohne Ausnahme – respektvoll behandelt werden sollen. Diese Auffassung hat heute immer noch theologische Bedeutung und betont, dass Menschen nicht objektifiziert werden dürfen.

Nun, was bedeutet das für unsere moderne Gesellschaft? Zumindest offiziell sind wir keine Sklavenhaltergesellschaft mehr, anders als in der Vergangenheit. Menschen dürfen nicht als Besitz oder Objekte betrachtet werden. Dies kann jedoch in der Sexindustrie, einschließlich der Pornografie, leider passieren.

Ein weiteres interessantes Beispiel ist das Hohelied, ein biblisches Buch, das offen über Sexualität spricht, sogar recht explizit. Es betont die Bedeutung, sexuelle Energien innerhalb sozial akzeptabler Bahnen zu lenken. Ein zentraler Vers besagt: 'Denn Liebe ist stark wie der Tod (…) ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme.' Hier wird deutlich, dass Liebe, Sexualität und Erotik eine starke Energie und Macht haben können. Dies steht im Kontrast zu eindeutiger Ethik. Ethik muss klare Richtlinien haben, während Literatur und Kunst nicht unbedingt eindeutig sein müssen. Ich glaube, dass menschliche Erfahrungen in Bezug auf Sexualität, Lust und Begehren in der Theologie nicht immer eindeutig festgelegt sind, und genau das wird in diesen Texten gut veranschaulicht.

Was mir da noch einfällt, ist ein Passus aus einem Brief von Paulus aus dem ersten Korintherbrief. Paulus sagt sinngemäß, dass zwar alles erlaubt sein mag, aber nicht alles unbedingt förderlich ist. Ich denke, dieser Gedanke ist sehr hilfreich, um den Unterschied zwischen bloßer Moral und tieferem Wohlbefinden oder Nutzen zu verstehen. Dies betrifft auch Beziehungen. Das bedeutet nicht, dass etwas theologisch als Sünde klassifiziert ist, sondern vielmehr, dass es nicht guttut.

Das kann auch auf den Umgang mit Pornografie angewendet werden. Es könnte eine Anleitung sein, um herauszufinden, was einem guttut, was förderlich ist – für den eigenen Körper, die eigene Sexualität, Beziehungen und das soziale Umfeld. Das ist für mich eine weitere Betrachtungsebene.

Zusammenfassend ergibt sich für mich ein dreifacher Aspekt: Erstens die Betonung der Würde des Menschen, eine biblische Grundlage. Dann die Anerkennung der Tiefe, Macht und Vielfältigkeit von Liebe und Begehren. Und schließlich die Erkenntnis, dass Menschen viele Dinge tun können, aber nicht alles unbedingt gut für sie ist.

Wo würden Sie die Grenze ziehen zwischen sexueller Freiheit und der Verletzung von Freiheit durch Pornografie?

Die wichtigste Grenze ist für mich die Würde und der Schutz von Menschen. Das hängt eng mit den Bedingungen zusammen, unter denen etwas produziert wird. Zum Beispiel, wie werden die Menschen behandelt, die in dieser Branche arbeiten? Das kann, soweit ich weiß oder gelesen habe, ziemlich unterschiedlich sein, und das betrifft nicht nur die Pornoindustrie, sondern auch viele andere Branchen. Es geht darum, wie Menschen in prekären Situationen dazu gebracht werden, Dinge zu tun, die sie nicht möchten, oder wie sie ausgebeutet werden, während andere das Geld einstreichen. Das ist definitiv eine Grenze, und sie wird nicht nur von der gesellschaftlichen Moral definiert – sie hat eher eine ethische Dimension, die meiner Meinung nach auch theologische Aspekte einschließt.

Moral ist oft das, worauf Gesellschaften sich einigen, um festzulegen, was als anständig gilt. Und das kann in verschiedenen Gesellschaften und Generationen sehr unterschiedlich sein. Ich persönlich denke, dass Pornografie an sich, also die Idee, sich visuelle Medien anzusehen oder zu produzieren, um Lust zu empfinden, zunächst kein Problem darstellt. Lust kann an sich etwas Positives sein, solange sie auf eine Weise erlebt wird, die niemandem schadet. Die Vorstellung, wie Beziehungen organisiert sein sollten, hat keine einheitliche biblische Grundlage – im Alten Testament zum Beispiel gab es ganz andere Beziehungsformen, die in der damaligen Kultur verankert waren. Das mag für viele überraschend sein, aber es zeigt, dass solche Dinge kulturell verhandelbar sind.

In unserer modernen Kultur kann Lust Teil einer erfüllten Sexualität sein, unabhängig von Beziehungen. Das bedeutet, dass Lust nicht nur innerhalb von Beziehungen stattfindet, sondern auch individuell empfunden wird. Das ist meiner Ansicht nach auch ein wichtiger Aspekt der menschlichen Sexualität.

"Stereotype wie der hypersexuelle schwarze Mann oder die unterwürfige Asiatin werden in der Pornoindustrie reproduziert und verstärkt."

Gibt es darüber hinaus aus Ihrer Sicht problematische Aspekte von Pornografie?

Als Theologin, die mit Studentinnen und Studenten arbeitet, sehe ich ein grundlegendes Problem, das viele Pornos – aber nicht nur Pornos – betrifft: Sie verfestigen oft bestimmte Geschlechterstereotype und Hierarchien. Diese prägen eine bestimmte Form dominanter Männlichkeit, die oft mit der Unterordnung von Frauen einhergeht. Dabei geht es auch um Rassismus und andere Formen von Diskriminierung. Stereotype wie der hypersexuelle schwarze Mann oder die unterwürfige Asiatin werden in der Pornoindustrie reproduziert und verstärkt. Diese Stereotypen beeinflussen auch andere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Aber das ist nicht das Wesen von Pornografie an sich. Es gibt auch andere Arten von Pornografie, soweit ich weiß.

Kürzlich gab es eine Diskussion darüber, ob zum Teil pornografische Darstellungen in einer evangelischen Kirche gezeigt werden dürfen. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ich sehe das so, dass es stark von der Situation abhängt und von den beteiligten Personen. Ich habe die Diskussionen in diesem Zusammenhang etwas verfolgt, auch die Argumente, die dort vorgebracht wurden. Einerseits finde ich es besorgniserregend, wenn rechte Propaganda dazu führt, dass bestimmte Inhalte nicht mehr gezeigt oder besprochen werden können. Andererseits, wenn es um die Kirche geht, gibt es Menschen, für die die Kirche ein spirituelles Zuhause war oder ist. Gerade für ältere Generationen, für die gewisse Dinge absolut undenkbar und verstörend sind. Ich denke an diese Menschen, wenn ich darüber nachdenke, ob es notwendig oder sinnvoll ist, solche Themen in der Kirche anzusprechen. Für sie ist die Kirche ein heiliger Ort, und solche Inhalte könnten ihr spirituelles Erleben beeinträchtigen. Es ist jedoch eine Herausforderung, in der Praxis eine klare Trennlinie zu ziehen.

Der dritte Punkt ist natürlich, dass es auch Menschen gibt, die nicht mehr zur Kirche gehen, weil ihre sexuelle Identität dort nicht repräsentiert wird. Diese Menschen haben ebenfalls Rechte und verdienen es, gehört und gesehen zu werden. Das stellt meiner Ansicht nach eine komplizierte Abwägung dar. Ich denke an diejenigen, deren Verbindung zur Kirche noch besteht oder bestand – ich kenne auch solche Personen –, und sie haben definitiv auch wertvolle Perspektiven zu diesem Thema, auch wenn meine eigene Sichtweise anders ist.

Wie steht es eigentlich um Darstellungen des nackten Jesus am Kreuz in Kirchen, die oft eine homoerotische Note haben?

Die Sache ist die, wir landen wieder bei der Definition von Pornografie, ob wir sie eng oder weit fassen. Wenn wir sagen, dass Pornografie produziert wird, um Lust zu erregen, dann sind die Intentionen bei Werken oft anders. Das ist sicherlich der Fall, wie kann man das unterscheiden? Auch religiöse Bilder können erotische Komponenten haben, das ist bekannt, und die Reaktionen darauf sind sehr unterschiedlich. Traditionelle Betrachter, die solche Werke aus einem kulturellen Kontext kennen, etwa in ihrer Kirche, nehmen oft keinen Anstoß daran. Aber es ist eben auch bekannt, dass kunsthistorisch bedeutende Werke oft starke erotische, auch homoerotische Elemente aufweisen.

Das wird besonders offensichtlich, wenn man sich Heiligen-Darstellungen aus dem Barock ansieht. Ein geschultes Auge erkennt diese Aspekte klar. Einige könnten sich gestört fühlen, aber meist sind es diejenigen, die weniger traditionell sind und diese Darstellungen problematisch finden. Nicht unbedingt, weil sie sie erotisch finden, sondern eher wegen der expliziten und schamlosen Darstellung eines gequälten, nackten Körpers am Kreuz. Dies könnte für Menschen, die nicht kirchlich geprägt sind, ein größeres Anliegen sein. Hier kommt es wieder auf Sehgewohnheiten an. Sehen sie etwas, was andere nicht sehen? Auf der anderen Seite kann der Kontext fehlen, der mehr ausdrückt als nur Nacktheit und Leiden, sondern auch andere Dimensionen umfasst.

"Bei ethischen Fragen ist die evangelische Kirche oft zurückhaltend. Aber wenn es um Gerechtigkeit, Verletzbarkeit und den Schutz der Schwachen geht, ist ihre Position oft deutlich."

Zusammenfassend gefragt: Es gibt also keine eindeutige Haltung gegenüber Pornografie, die für Protestant*innen empfehlenswert wäre?

Kürzlich habe ich ein Interview im "Süddeutsche"-Magazin mit der Pornografie-Forscherin Madita Oeming gelesen, die recht bekannt ist. Sie rät dazu, sich die Menschen hinter den Firmen anzusehen, also die Produktionsbedingungen und die beteiligten Personen. Sie verfolgt teilweise sogar diese Personen auf Instagram oder beobachtet Filme, die zeigen, wie Dinge in der Branche produziert werden und wie Verträge aussehen.

Wenn ich eine Handlungsempfehlung geben müsste, würde ich mich stark auf die Schutzmaßnahmen für alle Beteiligten konzentrieren. Zusätzlich dazu sollte man auch die Frage stellen, was einem selbst guttut. Ich finde es wichtig, sich für einen Moment zurückzulehnen und zu überlegen, was einem inneren Frieden bringt. Ich persönlich konsumiere nur wenige visuelle Medien, hauptsächlich Bilder. Aber ich bin sensibel dafür, wie bestimmte Inhalte auf mich wirken und wie sie meine Gemütsverfassung beeinflussen können.

Etwas, das ich in dieser Debatte hilfreich finde, ist, sich bewusst zu machen, was die evangelische Theologie dazu zu sagen hat. Bei ethischen Fragen ist die evangelische Kirche oft zurückhaltend. Aber wenn es um Gerechtigkeit, Verletzbarkeit und den Schutz der Schwachen geht, ist ihre Position oft deutlich. Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Punkt. Ebenso ist da noch die theologische Dimension, die sich von der ethischen unterscheidet. In der theologischen Sichtweise kann Sexualität als etwas Gutes betrachtet werden, das zum Menschsein dazugehört.

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