Es gibt lautere und leisere Menschen

Was für ein Kräftemessen. Ich komme aus einer Arbeitsgruppe, die das Ziel hat, unsere Abteilung neu zu strukturieren. Aus ehemals zwei Abteilungen soll eine werden. Wir haben zwar Zeit dafür, doch wichtige Entscheidungen müssen nun ganz schnell getroffen werden: Welche Aufgaben sind wichtig? Was muss unbedingt gemacht werden? Wie können Gelder eingespart werden? Die Sitzung dauert vier Stunden, und die Argumente fliegen nur so durch den Raum.

Mit schwirrendem Kopf stehen wir nachher auf dem Gang. Und ich bin unsicher: Habe ich genug gesagt? Meine Gedanken laut genug vorgebracht? Zum richtigen Moment die Hand gehoben?

Solche Sachen machen mir ja Spaß. Der Wettstreit der Ideen setzt viel Kreativität frei, neue Möglichkeiten entstehen, und – trotz aller Einsparungen – scheint es möglich, in Zukunft sogar noch besser arbeiten zu können. Und doch bleibt ein mulmiges Gefühl, denn wieder habe ich etwas beobachtet, was mir in solchen Runden schon oft begegnet ist:

Wir fangen zwar gemeinsam mit allen an, doch irgendwann teilt sich die Gruppe. Nicht in Gegner oder Befürworter einer Idee, sondern in laute und leise Mitstreiter.

So läuft das bei Elternabenden, Vereinssitzungen – aber auch in unseren persönlichen Beziehungen. In der Familie. Es gibt die lauteren und die leiseren Menschen. Und beide werden von der jeweils anderen Seite kritisch beäugt: Ist der Leisere vielleicht einfach zu faul, hat keine Lust oder kein Interesse? Und andersherum muss sich der Lautere fragen lassen, ob er nicht vielleicht zu sehr von sich selbst überzeugt sei, eingebildet oder arrogant. Dominant. Immer solle alles nach ihm gehen.

Die Lauten und die Leisen. Wir haben es nicht leicht miteinander.

Was mich dabei beunruhigt: Sowohl die lauten wie auch die leiseren Menschen haben eigentlich gleich viele Gedanken und Ideen zu den Fragen, die da diskutiert werden. Die Ergebnisse aber werden dann von den Lauteren diktiert. Jetzt einfach zu sagen "ja, Pech gehabt, hätten sie halt was gesagt", greift aber zu kurz.

Denn es sind einfach ganz unterschiedliche Persönlichkeitstypen, die hier aufeinanderprallen.

Selbst wenn beide sogar die gleiche Idee haben: Der leise Mensch fasst sie lieber in Worte, nachdem sie zu Ende durchdacht ist – der andere spricht erstmal laut ins Unreine, korrigiert, verbessert im Reden, und erreicht so seine Schlussfolgerungen.

Da zeigt sich, wer eher "introvertiert" ist, nach innen gekehrt, und wer das Gegenteil ist, eher "extrovertiert".

Mittlerweile interessiert sich die Neurowissenschaft dafür: Sie haben bei Messungen der Hirnströme festgestellt, dass die eher introvertierten stets eine größere elektrische Aktivität im Gehirn zeigten, also stärker stimuliert waren. Noch weiß man nicht, was das bedeutet.

Klar ist jedoch: Dies Stille ist keine Leere, sondern eine dichte Reflexion. Zwischen Laut und Leise. Es sind also tatsächlich Unterschiede im Gehirn feststellbar.

Herbert Grönemeyer zählt sich selbst zu den ruhigen Typen. In seinem Lied "Mut" hält er Rückblick auf das Jahr 2021. Flutkatastrophe an der Ahr, Debatte um Seenotrettung, Antritt einer neuen Bundesregierung. Was war da alles los! Eine sich überschlagende Hektik der Ereignisse.  "Wie enteilt man der Raserei?" fragt Grönemeyer. Er bringt Ruhe in die Bewegung und nennt sein Lied: Mut.

Ruhige Typen haben es nicht leicht in unserer schnellen Welt

Wer heute eher introvertiert ist, hat es schwer in unserer Welt. Schnell wird man übersehen, überhört. Denn das Tempo ist enorm. Die ständige Präsenz von WhatsApp, Twitter, Eilmeldungen und Nachrichten prasseln ohne Pause auf uns alle ein – und es kostet schon enorm viel Kraft, sich dem tatsächlich zu entziehen.

Ich bin in fünf sehr aktiven WhatsApp-Gruppen, wo ständig etwas passiert. Schon wieder 18 Nachrichten! Wenn ich mich dem entziehen will, muss ich die Gruppe bewusst stummschalten. Oder ich muss bewusst eine digitale Auszeit einrichten, die ich natürlich aber vorher ankündige, um mich nicht sofort rechtfertigen zu müssen, dass ich noch nicht auf eine 30 Minuten alte Sprachnachricht geantwortet habe.

Bezeichnend ist, dass der Satz "Sorry, dass ich mich jetzt erst melde" schon eine Standardeinleitung bei vielen Unterhaltungen geworden ist...

Denn heute gilt es nun einmal als erstrebenswert, all das quasi mit links zu erledigen, dabei gut vernetzt zu sein, und seine Anliegen gleichzeitig selbstbewusst zu vertreten. Natürlich gehört ein spannender Beruf ebenso dazu, wie mindestens ein interessantes Hobby. Positiv wird gesehen, wer sein Leben in die Hand nimmt, weiß, wo es langgeht, und charismatisch und humorvoll, und trotzdem mit einer spielerischen Leichtigkeit und Gelassenheit auftritt.

Die Lauten kommen mit solchen Anforderungen oft viel leichter zurecht, als die Leisen. Die Welt, scheint es, gehört eigentlich den Lauten…

In der Bibel stehen Sätze, in denen ich genau dieses Dilemma entdecke. Da schreibt der Apostel Paulus nämlich an eine Gemeinde in Korinth, in der sich die Lauten und die Leisen in die Haare gekriegt hatten. Er hat eine spitze Feder und macht das, was provokante Satire heute auch macht, um einen Missstand sichtbar zu machen:

Er arbeitet mit Übertreibungen und einer bewussten Einseitigkeit, um auf ein ganz bestimmtes Problem hinzuweisen. Wir befinden uns dabei nicht in einer Diskussion, in der zwei Sichtweisen abgewogen werden. Es geht viel tiefer. Paulus drängt auf Veränderung!

Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. (1 Kor 1, 27-29)

Ein Ansatz, um die Welt aus den Angeln zu heben

Das klingt hier in der Übersetzung von Martin Luther ziemlich kompliziert. "Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt". Also das, was es schwer hat, vor der Logik der Welt gut dazustehen, das gefällt Gott. Und mehr noch: Sogar "was töricht ist vor der Welt", das hat Gott erwählt. Und damit kann Paulus allerhand gemeint haben.

"Torheit", das könnte "Faulheit", "Dummheit" oder "Einfalt" bedeuten. Auf jeden Fall eigentlich nichts, wofür es auf in dieser Welt eine Medaille zu gewinnen gibt.

Und so ist es auch völlig absurd, dass Paulus uns hier alle zusammen dazu aufruft, töricht zu sein – darin liegt die Ironie dieser überzeichneten Worte. Hier geht es Paulus um den Gegensatz! Er braucht einen Hebel, um die Welt der Starken aus den Angeln zu heben. Er braucht einen Ansatz, um  die Welt, wie sie heute ist und damals schon war, zum Einsturz zu bringen.

Paulus muss irgendwie deutlich machen, dass die Starken in der Gemeinde nicht einfach machen können, was sie wollen – und seien sie auch noch so stark und eloquent und schlagfertig und reich. Denn genau das war das Problem damals in Korinth: Dort hatte eine elitäre Gruppe in der Gemeinde das Sagen übernommen. Leute, die ein gewisses Standing in der Gesellschaft hatten und sich anscheinend auch gut durchsetzen konnten.

Wer da nicht dazu gehörte, der hatte bald nichts mehr zu sagen.

Die Starken und Lauten hatten das dann zum Beispiel so geregelt, dass sie mit dem Abendmahl, zu dem damals auch ein festliches Essen gehörte, einfach schon früher angefangen haben. Sie saßen also schon beim Tisch und aßen in aller Ruhe bereits, während die so genannten "einfachen Leute" noch nicht mal vom Feierabend träumen durften.

Wenn es bei denen dann endlich so weit war, wenn sie müde und erschöpft in der Gemeinde auftauchten, da waren die Teller leer und nur noch die Reste übrig. Die langen Gesichter kann ich mir vorstellen.

Wenn ich heute lese, was Paulus damals geschrieben hat, dann sehe ich da nicht nur den Kämpfer gegen die Arroganz und die Anmaßung der Macht.

Ich sehe auch den Prediger und Seelsorger, der Menschen zusammenbringen möchte – über Grenzen von arm und reich, von stark und schwach, von laut und leise hinweg.

Denn das Pochen auf Stärke trennt uns Menschen voneinander. Das reißt Gräben auf. Denn die Demonstration von Stärke sucht die Abgrenzung. Man will ja stärker sein als der andere! Unsere Schwächen verbinden uns Menschen eher miteinander. In den Bruchlinien des Lebens finden wir einander, kommen wir einander nahe, entsteht Augenhöhe, Vertrauen und echte Nähe.

Paulus erinnert die Starken also an Ihre Schwäche, und die Schwachen an Ihre Stärke. Er stellt uns alle wieder auf einen gemeinsamen Boden, und das ist der Boden des Menschseins. Im neuen Testament hat es einen Namen: Jesus, der Christus. Gott als Mensch, genau darin stark, dass er Schwäche zeigt und ablehnt, was die Welt unter Macht und Stärke versteht.

Konflikte, Krisen und die Faszination der religiösen Überhöhung

All die Konflikte von Korinth sind heute mitten unter uns.  Mich bewegt zum Beispiel, wie selbstverständlich sich Besserwisserei und Überheblichkeit in unser Miteinander einschleichen. Neulich war ich auf einer europäischen Konferenz zum Thema "Kirche und Demokratie". Westeuropäische Kirchen traten viel lauter auf als die Diasporakirchen Mittel- und Osteuropas. Das geschieht sicher mit den besten Absichten:

Doch wissen die Lauten auch wirklich besser, worin die Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit liegen? Meinen wir wirklich, allen alles erklären zu können und zu müssen?

Mit welch großem Sendungsbewusstsein treten wir da auf… Kirchen und Religionen können aber, da bin ich sicher, einen viel wertvolleren Beitrag zum Miteinander auf der Welt leisten, wenn die Menschen noch besser werden im gegenseitigen Zuhören und skeptisch werden, wenn Religion und Macht eine Allianz bilden.

Denn was sich religiös begründen und überhöhen lässt, ist ja auch für Diktatoren und Autokraten – damals wie heute – interessant: Nicht wenige haben sich auch ganz bewusst mit Religionen verbündet, um das eigene Handeln auch im religiösen Licht erstrahlen zu lassen. Auch wenn es um Krieg und Besatzung und Terror geht.

Ich glaube, es gibt nur einen Weg, den Diktatoren den Wind aus den Segeln zu nehmen: wenn die leisen Stimmen gehört werden. Die von Nächstenliebe - und Gottesliebe reden, vom Schutz der Schwachen und vom Eingeständnis, dass wir Menschen uns selbst nicht retten oder erlösen können.

Genau das Gegenteil behaupten Diktatoren und Autokraten: Ich rette euch, ich gebe euch alles, was ihr braucht, ihr seid auserwählt – und nicht jene anderen, die es gemeinsam zu bekämpfen gilt.

"Macht euch laut" – schreit der Sänger der Indie-Rockband Madsen verzweifelt ins Mikrophon. "Sagt, was ihr denkt, dann hört man euch auch!" und "von allein hören keine Kriege auf". Der verzweifelte Ruf, den Leisen doch endlich mehr Gehör zu verschaffen!

Paulus hat für seine Gemeinde in Korinth ein Bild vor Augen, wo Stark und Schwach, wo Laut und Leise miteinander eine Gemeinschaft bilden. Und darin liegt, davon bin ich überzeugt, auch heute der Schlüssel zum Erfolg. Was nicht hilft, ist das schwarz-weiß-Denken, wo dann eine Seite nur positiv und die andere nur negativ gesehen wird… á la "die Stillen haben ja nix beizutragen" und "die Starken wollen nur posen", oder so in der Art.

Beide Seiten haben echte Stärken. Nur so können wir uns gegenseitig positiver sehen.

So hat die, die redegewandt und schlagfertig die Diskussion meistert, vielleicht wirklich geniale Ideen. Und gleichzeitig hat der zurückhaltendere Kollege vielleicht die Weisheit, nicht vorschnell in eine Falle zu tappen, denn in der Ruhe liegt auch viel Kraft, um dann, wenn es wirklich drauf ankommt, voll da sein zu können.

Da halte ich kurz inne und frage mich: Bin ich eigentlich eher laut oder eher leise? Das ist, merke ich, gar nicht so leicht zu beantworten. Natürlich hängt es davon ab, wo ich unterwegs bin: bei der Arbeit mag das anders sein als in der Familie oder in der KFZ-Zulassungsstelle. Aber egal wo: Es hilft mir ungemein, mich selbst gut einzuschätzen und zu wissen, was für ein Typ ich bin.

Ich kann mal ruhiger sein oder lauter sein - beides gehört zu mir. Beides kann ich annehmen. Dann ist es auch in Ordnung, in einer hitzigen Diskussion zu schweigen, weil ich weiß "Ich bin der ruhigere Typ, ich finde andere Wege, meine Gedanken einzubringen". Oder ich sehe ein "Da hab ich jetzt aber wohl zu viel geredet, jetzt sollte ich dringend mal wieder zuhören!"

Wenn laut und leise sein darf, wenn Laute und Leise lernen, aufeinander zu achten und miteinander umzugehen, kommt etwas in Bewegung.

In Sitzungen gelingt das übrigens überraschend einfach, indem man mal die Methode wechselt: Statt immer nur sich zu melden und zu reden-was die Lauten bestens allein unter sich bestreiten-, bringt ein Methodenwechsel die anderen ins Spiel: Wenn Ideen still zuerst auf Zetteln gesammelt werden, dann hängen alle Vorschläge nebeneinander an der Wand.

Das schaltet übrigens auch Faktoren aus, die unterschwellig die Wahrnehmung einer Idee beeinflussen: Wurde sie von einem Muttersprachler vorgetragen? Von Mann oder Frau? Und wenn man gemischte Teams aus etwa gleich vielen lauteren und leiseren Typen bildet, können sich die Stärken beider Seiten ideal ergänzen. So wurde der stille Erfinder Steve Jobs auch erst im Duo mit dem selbstbewussten Verkäufertypen Pete Wotzniack zu einem unschlagbaren Team...

Vielleicht ist der Spruch "gleich und gleich" gesellt sich gern zwar statistisch richtig. Doch wird es erst richtig spannend, wenn unterschiedliche Typen aufeinander treffen und zusammen dann großartig werden.

Ehepaare, die auf den ersten Blick gar nicht zueinander passen, und doch gemeinsam auf fast magische Weise das Leben meistern – gerade weil sich ihre Stärken ergänzen. Erfinderduos, politische Koalitionen, der Freundeskreis. Und natürlich – daran denkt Paulus –das Gemeinwesen insgesamt.

In Christus finden wir zueinander

Für ihn, für Paulus, hat das alles übrigens einen ganz einfachen Grund: Wir werden von Gott in gleicher Weise geliebt. Nicht mehr, wenn wir lauter rufen und nicht weniger, wenn wir den Mund nicht aufkriegen. Nicht weniger in schwachen Momenten, und nicht mehr in den größten Triumphen.

Das verbindet uns mit Jesus Christus, der auch laut und leise konnte, und am Ende den Weg der Schwäche gewählt hat, um in aller Stärke aufzuerstehen. Oder wie Paulus es sagt:

Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, 31auf dass gilt, wie geschrieben steht (Jer 9,22-23): "Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!" (1. Kor. 1, 30)

Wir sind alle gemeinsam in Christus Jesus geborgen, also bringt es auch nichts, seine eigenen Erfolge zu betonen, sondern lieber – wie er sagt – sich des Herrn zu rühmen. Heute würde man vielleicht sagen: Wenn du auf etwas stolz sein möchtest, dann sei stolz und dankbar dafür, was Gott dir gegeben hat.

Das kann die Gabe des Lauten oder Leisen sein, das kann die Kraft der Stille oder das sprühende Feuerwerk der Worte sein. Das können Lebensphasen der Stärke und des Erfolgs sein, aber auch Zeiten der Krise, des Umbruchs und der gefühlten Hilflosigkeit.  

Paulus hat in Korinth einmal auf den Tisch gehauen und ganz provokant dafür gesorgt, dass die unterschiedlichen Menschen besser aufeinander achten. Neues entsteht, wenn laute und leise, starke und schwache ihre Kräfte vereinen.

Was für Motivation, da beharrlich zu bleiben und nicht zu resignieren, weil man das letztes und vorletztes Jahr auch schon versucht hat… Bei Paulus erlebe ich eine himmlische Energie für ein neues, besseres Miteinander! Für das neue Jahr nehme ich sie als Rückenwind.

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