Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist auch 19 Monate nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 ungelöst: Über 50 Geiseln sind immer noch nicht frei, der Krieg in Gaza ist immer noch nicht zu Ende, Frieden ist nicht in Sicht.
In der Woche nach Ostern ist Thomas Prieto Peral, früher Ökumene-Referent der bayerischen Landeskirche und heute Regionalbischof, für fünf Tage lang ins Heilige Land gereist.
Dort hat er mit Religionsvertretern von Christen, Juden und Muslimen gesprochen - sowie mit Traumaexperten und Geiselfamilien und Opfern von Gewalt auf beiden Seiten. Ein Gespräch über Schmerz und Empathie.
epd: Herr Prieto Peral, warum sind Sie nach Israel gefahren?
Prieto Peral: Vor über 20 Jahren habe ich die evangelische Stiftung Wings of Hope mitbegründet, die traumatisierten Menschen in Kriegsregionen hilft. Gewalt macht krank, und wenn die Folgen nicht bearbeitet werden, ist das der Boden für die nächsten Konflikte.
Wir sind seit 2004 mit diesem Thema auch im Nahen Osten engagiert. Der interreligiöse Dialog ist seit meiner Zeit als Ökumene-Referent der Landeskirche ebenfalls ein Schwerpunkt.
Dieser Dialog ist bei uns seit dem 7. Oktober sehr schwer geworden. Mir ist es deshalb ein Anliegen, auch im aktuellen Nahost-Konflikt die Perspektive von verwundeten Menschen deutlich zu machen. Auf israelischer wie auf palästinensischer Seite sind die Seelen der Menschen so voll mit dem eigenen Schmerz, dass für den Schmerz der anderen Seite kein Platz mehr zu sein scheint.
Darauf wies kürzlich der Schriftsteller und israelische Historiker Yuval Harari hin und sagte, es brauche Dritte, die einen Raum für Begegnung und Verständnis öffneten.
Wer kann diese Aufgabe übernehmen?
Organisationen wie zum Beispiel das Rossing Center in Jerusalem, das von einer Israelin und einem jungen Palästinenser geleitet wird. Dort wurde eine besondere Kommunikationsform entwickelt, „Healing Hatred“, bei der der Dialog bewusst mit seelsorgerlichen Elementen verbunden wird.
Das kann helfen, um zwischen verhärteten Lagern - trotz der jeweils berechtigten Ängste vor Gewalt, Schikane oder Bedrohung - wieder einen Raum für Empathie zu öffnen. Mit dieser Methode werden dort zum Beispiel Rabbiner geschult. Ich fand das sehr ermutigend, und ich kann mir vorstellen, dass auch uns hier solche Erfahrungen zu neuen Formen des gesellschaftlichen Dialogs inspirieren können.
Können die Religionen überhaupt einen Beitrag zur Verständigung leisten? Der interreligiöse Dialog ist ja seit dem 7. Oktober praktisch zum Erliegen gekommen.
Rabbiner Pinchas Goldschmidt, Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz, hat bei unserem Treffen in Jerusalem gesagt: Der interreligiöse Dialog hat so lange funktioniert, solange der Nahostkonflikt nicht thematisiert werden musste. Die Idee war, erst genug tragfähige Brücken zu bauen und Vertrauen zu schaffen, damit man dann das schwierigste aller Themen gemeinsam ansprechen kann.
Der Terror des 7. Oktober hat diesen Prozess abrupt gestoppt: Seither kann man den Dialog nicht mehr vom aktuellen Konflikt trennen, und deshalb ist er vielerorts völlig verfahren. Genau deshalb brauchen wir auch hier Gesprächsformate in geschützten Räumen, in denen Ängste und Misstrauen bearbeitet werden können.
Sie haben auch den Tempelberg besucht und mit einem Vertreter der Waqf-Behörde gesprochen, die die islamischen Stätten dort verwaltet. Wie blickt so jemand auf die aktuelle Situation?
Dieses Gespräch hat wenig Anlass zur Hoffnung gegeben. Der Vertreter betonte, dass der Islam die Religion des Friedens sei. Schuld am Konflikt sind die anderen. Ich konnte in seinem Vortrag nur wenig Dialogbereitschaft und kaum Selbstkritik erkennen.
Natürlich nimmt die Jerusalemer Altstadt eine spezielle Rolle ein. Die Fronten sind hier besonders verhärtet. Es gibt immer mehr Splittergruppen, die aus religiösen Überzeugungen die Stadt anderen streitig machen wollen.
Rabbiner Goldschmidt kritisierte zum Beispiel auch das zunehmende Phänomen, dass ultraorthodoxe Juden Menschen, die als Christen erkennbar sind, auf offener Straße bespucken. Denn so ist der interreligiöse Dialog zum Scheitern verurteilt: Wenn man sich selbst stets auf der „richtigen“ Seite wähnt und den anderen nur als Zerrbild sieht.
Sie haben in Tel Aviv mit zwei Familien gesprochen, deren Angehörige noch immer als Geiseln in der Gewalt der Hamas sind. Haben sie noch Hoffnung?
Diese Menschen sind emotional komplett in der „traumatischen Zange“. Alles, was für sie zählt, ist die Rettung des Lebens ihrer erwachsenen Kinder. Die Hamas sind für sie Mörder, aber ansonsten habe ich von ihnen kein abfälliges Wort über Palästinenser gehört.
Bitter enttäuscht sind sie von ihrer eigenen Regierung, die sich aus ihrer Sicht kaum um ihr Schicksal kümmert, die wenig Empathie zeigt, die in ihren Augen auch keinen Plan für Gaza hat. Zugleich waren sie so dankbar für das Gespräch. „Ihr gebt uns die Ehre, indem ihr uns zuhört“, haben sie gesagt. Das hat mich sehr berührt.
Sie haben zwei Traumazentren besucht, eins in Sha‘ar HaNegev in der Nähe des Gaza-Streifens und eins in Bethlehem im Westjordanland. Wie blicken denn die Traumaexperten beider Seiten auf die Situation?
Auf fachlicher Ebene sind sie sich sehr einig, was die Opfer von Gewalt brauchen und was wichtig für Frieden ist, aber derzeit kann sich jedes Zentrum gerade nur um „seine“ Leute kümmern. Das Zentrum der Israeli Trauma Coalition in Sha‘ar HaNegev betreut Menschen aus Israel, die seit dem 7. Oktober unter den Folgen der Anschläge leiden.
Auch der Ort und die benachbarte Stadt Sderot waren Schauplätze des Massakers, der Bürgermeister - ein Brückenbauer, der im November 2023 in Sderot ein lang geplantes, überregionales Wirtschaftsprojekt zwischen Israel und Gaza starten wollte - wurde als einer der ersten erschossen.
Alles, woran die Leute dort geglaubt haben, ist tot. Maia Ifrah als Leiterin des Zentrums erzählte uns von ihrer eigenen Angst. Frieden könne sie sich überhaupt erst vorstellen, wenn der Schmerz gegenseitig zugestanden werde.
Wie sieht es im Traumazentrum von Wings of Hope in Bethlehem aus?
Das Team dort kümmert sich um Menschen aus Palästina, die unter der Erfahrung von andauernder Willkür, Gewalt und Demütigung durch die israelische Besatzung leiden. Die Leiterin dort, Ursula Mukarker, betreut einige der Kinder aus Gaza, die auf Initiative der scheidenden Außenministerin Annalena Baerbock in das SOS-Kinderdorf Bethlehem evakuiert wurden.
Sie erzählte uns, sie habe noch nie in solche seelischen Abgründe geschaut wie bei diesen Kindern. Auch dort sind die Profis selbst emotional betroffen und kämpfen um einen stabilen Stand, damit sie anderen helfen können. Über das Leid der anderen zu sprechen, dafür reichen die Kapazitäten kaum.
Was kann in dieser Situation überhaupt weiterhelfen?
Alles, was Empathie fördert. Die Opfer von Gewalt auf allen Seiten brauchen mehr Fürsprache. Das Leiden von Menschen darf nicht abgewertet werden, nur weil sie zur „anderen“ Seite gehören, denn es ist echtes Leid. Der Krieg muss aufhören. Ich habe Rabbiner Goldschmidt gefragt, warum für den Frieden zehntausende Menschen in Gaza sterben müssen.
Er sagte: „Der Zweite Weltkrieg wurde beendet, weil Deutschland kapituliert hat. Ohne diese Kapitulation wäre es zu einem langen Häuserkampf mit noch viel mehr Toten gekommen. Die Hamas hat verloren, aber sie will den Kampf bis zum Schluss.“
In Israel haben wir aber auch deutlich kritische Stimmen zum Ausmaß des Krieges gehört. Klar ist: Mit der Hamas kann es keinen dauerhaften Frieden geben. Klar ist auch, es braucht dringend andere Ideen, um aus der Spirale der Gewalt herauszukommen und um die stark zu machen, die Frieden wollen.
Auch innerhalb der bayerischen Landeskirche gibt es unterschiedliche Positionen mit Blick auf Israel und Palästina, die sich oft unversöhnlich gegenüberstehen. Was wünschen Sie sich für die Diskussion?
Wer derzeit über Israel und Palästina spricht, kann nicht mehr absehen vom Leiden der Menschen in diesem Konflikt, das auf den verschiedenen Seiten besteht. Jeder muss sich fragen: Nehme ich die Menschen auf der „anderen“ Seite des Konflikts als gleichwertig wahr? Denn das sind sie - jede Abwertung ist in meinen Augen Antisemitismus oder Rassismus.
Wo Menschen mit scharfer Rhetorik entmenschlicht werden, müssen wir widersprechen. Und es geht auch nicht um eine Opferkonkurrenz, welche Seite mehr leidet als die andere. Wir müssen Empathie fördern, denn erst, wenn Menschen in ihrem eigenen Leid ernst genommen werden, können sie auch das Leiden der anderen sehen. Da können wir als Kirche einen Beitrag leisten.
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