Wasser ist für uns so selbstverständlich und alltäglich – in der Mineralwasserflasche, beim Kochen, Duschen oder vom Himmel auf den Regenschirm prasselnd –, dass man leicht übersieht, mit welch rätselhaftem Stoff man es eigentlich zu tun hat.
Physikalisch gesehen ist Wasser – H2O – nämlich ein derart leichtes Molekül, dass es bei Raumtemperatur eigentlich gar nicht flüssig vorkommen dürfte, sondern nur als Gas. Eigentlich dürfte es frühestens bei Temperaturen von minus 80° Celsius überhaupt erst flüssig werden.
Eigentlich. Doch beim Wasser ist eine Menge anders: Fast alle bekannten Stoffe sind im festen Zustand schwerer als im flüssigen. Sie sinken in ihrer Schmelze. Eigentlich müsste Eis – das nichts anderes ist als Wasser im festen Zustand – also im Wasser untergehen. Bekanntlich schwimmen Eiswürfel im Wasserglas aber oben.
Dutzende Anomalien des Wassers
Obwohl Wasser erst bei 100 Grad siedet, ist es doch auch bei niedrigeren Temperaturen stets als Luftfeuchtigkeit oder Wasserdampf in der Luft vorhanden – je wärmer und damit energiereicher die Luft ist, desto mehr. Eigentlich ist sein Gefrierpunkt auch gar nicht die berühmte Nullgradgrenze, wie erst vor wenigen Jahren amerikanische Forscherinnen in aufwendigen Computersimulationen berechneten. Absolut reines Wasser gibt es auf der Erde nur im Labor, weil im Wasser fast immer andere Stoffe als Kristallisationskerne gelöst sind. Es würde erst bei minus 48,3 Grad gefrieren, dann aber in perfekter molekularer Tetraederstruktur wie im Inneren von Diamanten.
Es gibt auch "unterkühltes Wasser": Im Haushalt kennt man vielleicht das Phänomen, dass im Gefrierschrank gekühltes Bier in der Flasche noch flüssig ist, aber beim Öffnen an entstehenden Gasperlen spontan gefriert. Im Labor ist es gelungen, sehr reines, stehendes Wasser bei ganz langsamer Abkühlung auf bis zu minus 70° Celsius flüssig zu halten.
Auch seine "spezifische Wärmekapazität" macht das Wasser zu einem ganz besonderen Stoff. Bei keiner anderen natürlichen Flüssigkeit, keiner anderen festen Substanz braucht es mehr Energie, um sie zu erwärmen. Umgekehrt gibt Wasser gespeicherte Wärme nur langsam wieder ab, erkaltet also weniger schnell. Eine Eigenschaft, die Menschen mit der Wärmflasche auf dem schmerzenden Bauch zu schätzen wissen. Wie eine gigantische Wärmflasche wirken deshalb die Ozeane mit ihren gewaltigen Wassermassen: Auf Änderungen der Lufttemperatur reagiert ihr Wärmehaushalt nur träge und mit großer Verzögerung.
Der Blaue Planet - das Raumschiff Erde
Unter allen Himmelskörpern des Sonnensystems kommt nur auf der Erde Wasser direkt an der Planetenoberfläche in allen drei Aggregatzuständen dauerhaft und in großen Mengen vor – als Wasser, Wolken und als Eis. Geschützt von einer Atmosphäre, die das Entweichen von Wasserstoff ins Weltall weitgehend verhindert, macht genau das die Erde zum einzigartigen Ort des Lebens, zum "Blauen Planeten" und zum "Raumschiff Erde".
Der Übergang zwischen den verschiedenen Aggregatzuständen – also das Schmelzen und das Verdunsten – erfordert noch größere Wärmemengen. Man braucht zum Beispiel mehr als fünfmal mehr Energie, um einen Liter kochendes Wasser zu verdunsten, als einen Liter Wasser von 0 auf 100 Grad zu erwärmen. Auch damit trägt das Wasser zur Pufferung und Regulierung der Erdtemperatur bei.
Jeder Schüler dürfte in seiner Schulzeit einmal von der "Anomalie des Wassers" gehört haben. Gemeint ist damit, dass Wasser seine größte Dichte unter normalen Druckverhältnissen bei 3,98 °C hat – siehe Eiswürfel. Dass sich wärmeres Wasser bis zum Dampf immer mehr ausdehnt, je mehr Energie in ihm steckt, leuchtet ja ein; aber Wasser dehnt sich auch aus, wenn die Temperatur unter die 3,98-Grad-Marke sinkt. Nur geschmolzenes Lithium, Plutonium und sehr wenige andere Stoffe verhalten sich ebenso merkwürdig.
"Panta rhei" - Leben heißt fließen
Es gibt noch Dutzende weitere H2O -Anomalien: Gasförmig ist Wasser eines der leichtesten Gase, leichter als Kohlendioxid, leichter als Stickstoff, leichter sogar als Sauerstoff. Flüssig hat es eine unerwartet hohe Dichte. Wasser hat zudem eine sehr hohe Oberflächenspannung, vor allem kann es viele Mineralien auflösen und damit für Lebewesen verfügbar machen.
Leben heißt fließen: Alle Lebewesen sind in immerwährender dynamischer Umwandlung durch einen ständigen Zu- und Abfluss von Materie, Energie und Information mit der Umwelt verbunden. Das Wasser ist in diesem Stoffwechsel das Medium sowohl für die Zufuhr als auch für die Ausscheidung. Es ist das Kommunikationsmittel des Lebens
Jeder Liter Meerwasser enthält 30 Gramm Kochsalz, dazu Spurenelemente und den Sauerstoff, den die Meerestiere atmen. In den Organismen transportiert das Wasser Gase, Salze, Fette und Hormone an die Stellen, wo sie benötigt werden. Selbst den Sauerstoff aus der Luft nehmen wir mithilfe eines Wasserfilms auf unseren Lungenbläschen auf.
Am Anfang war der Wasserstoff
Fast alle Kulturen und Schöpfungsmythen der Menschheit erzählen vom Wasser als Ursprung allen Lebens. "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", heißt es ganz am Anfang der Bibel, als die Erde noch wüst und leer und in Finsternis auf der Tiefe lag, "und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser."
Wieder mal ein Fall von "und die Bibel hat doch recht" – Wasser gab es tatsächlich schon sehr bald nach dem Urknall. Man könnte sagen: Am Anfang war der Wasserstoff, denn nach der Evolution der Naturkräfte in den ersten Augenblicken der Entstehung des Universums war er zusammen mit dem Helium das erste Element im Kosmos. Das häufigste ist er noch immer. Sauerstoff, die ersten Knallgasexplosionen und als Ergebnis das erste H2O folgten bald. Dann dauerte es Jahrmilliarden, bis aus dieser Ursuppe Sterne alle schwereren Atome erbrüteten, die Sonne und der Planet Erde entstanden.
Aber wie und woher kam das Wasser auf der Erde? Vermutlich haben es eisige Kometen und vergletscherte Asteroiden aus dem Weltraum mitgebracht, die im Lauf der Jahrmilliarden mit unserem Planeten kollidierten. Womöglich kam aber zumindest ein Teil nicht aus den Tiefen des Alls, sondern aus dem Bauch der Erde. Ein kanadisches Forscherteam konnte nachweisen, dass unter dem hohen Druck und den hohen Temperaturen im Erdmantel bis in 400 Kilometer Tiefe zwei häufige "Zutaten" des Planeten miteinander zu Wasser reagieren: Quarz und Wasserstoff. Wasserstoff ist nämlich auch im Erdgestein eingeschlossen.
Wasser aus dem Weltall
Wasser ist der Urstoff des Lebens auf der Erde und besonders als Süßwasser ein knappes und wertvolles Gut. Doch als Wasserdampf oder Eis ist es im Universum gar nicht so selten. Man hat Millionen Kubikkilometer Eis auf dem Mars gefunden, kleinere Mengen auch auf dem Mond.
Flüssiges Wasser, in dem sich auf unserem Planeten einst das Leben entwickelte, gebe es in unserem Sonnensystem nur auf der Erde, dachte die Wissenschaft lange. Inzwischen ist man sich nicht mehr so sicher. Je mehr Planeten außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt werden, desto mehr Kandidaten für regelrechte Wasserplaneten, wie man sie aus Science-Fiction-Filmen kennt, kommen in den Blick. Tausende Exoplaneten haben Astronomen inzwischen identifiziert. Und der mit dem schönen Namen GJ 1214 b ist der wahrscheinlichste Kandidat dafür, ein Ozeanplanet zu sein, weil seine Atmosphäre überwiegend aus Wasserdampf besteht. Im Sternensystem Kepler-62 gibt es zwei weitere mögliche Ozeanplaneten. Sie befinden sich in einer solchen Entfernung von ihrer Sonne, dass auf ihnen Leben möglich sein könnte – wie die Erde weder zu nah noch zu weit weg.
Wasser in den Schöpfungsmythen
Die Vorstellung vom Wasser als Urquelle des Lebens ist schon zu allen Zeiten geradezu religiöses Gemeingut der Menschheit gewesen. Die Schöpfungsmythen fast aller Völker haben mit dem Wasser zu tun.
Im "Enuma elisch", der fast 4000 Jahre alten großen Schöpfungserzählung der Babylonier, gibt es einige Parallelen zur Schöpfungsgeschichte der Bibel: die Teilung des Chaos in Himmel und Erde, sieben Schöpfungstage. Auch hier fängt alles mit dem Wasser, einem Ur-Ozean an. Der Gott Abzu verkörpert das männliche Süßwasser tief im Inneren der Erde; seine Gemahlin Tiamat als Meeresgöttin das fruchtbare Salzwasser. Mit ihrer Verbindung beginnt die Welt.
In der altnordischen Mythologie spielen Wasserquellen eine bedeutende Rolle. In der Edda heißt es über den Weltenbaum Yggdrasil, der das gesamte Universum verkörpert: "Unter der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein sehr heiliger Brunnen, Urds Brunnen genannt: Da haben die Götter ihre Gerichtsstätte." Aber nicht nur halten die Götter hier Gericht, hier weben auch die drei Nornen, die das Geschick der Menschen bestimmen: Urd (das Gewordene), Werdandi (das Werdende) und Skuld (was da kommen soll). Sie sorgen mit Wasser, das sie täglich aus dem Brunnen nehmen und – vermischt mit dem Dünger um den Brunnen herum – auf die Weltesche sprengen, dafür, dass deren Zweige nicht welken. Denn wenn Yggdrasil zu beben (oder abzusterben) beginnt, naht das Weltenende – Ragnarök.
Wotans Auge in der Quelle
Urds Brunnen ist nicht die einzige Quelle des Weltenbaums. Eine weitere seiner drei Wurzeln führt in die eisige und dunkle Unterwelt Niflheim – und zur Quelle Hvergelmir, die alle Flüsse der Welt mit Wasser speist. Und schließlich ist da noch Mimirs Quelle, ein reißender Wasserfall, aus dem die Weisheit strömt. Sie ist der Grund, warum Wotan (Odin) einäugig ist. Hüter der Quelle ist Mimir, der jeden Morgen Met aus ihr trinkt. Auch Göttervater Wotan durfte einst aus der Quelle der Weisheit trinken. Allerdings musste er dafür ein Auge opfern und in den Brunnen legen.
Diese mythologische Verbindung von Auge, Wasser und Göttlichkeit gibt es in der Überlieferung vieler Völker.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts fiel dem Volkskundler und Indogermanisten Elard Hugo Meyer auf: "Die hebräische, persische und chinesische Sprache bedienen sich desselben Ausdrucks für Quell und Auge." Tatsächlich werden nicht nur im Hebräischen, sondern auch im Arabischen Quelle und Auge mit einem einzigen Wort bezeichnet: "’ayn". Israelische Ortsnamen wie En Gedi ("Quelle des Zickleins") oder En Kerem ("Weinbergquelle"), wo Johannes der Täufer geboren sein soll, heute ein Ortsteil von Jerusalem, erinnern daran.
Germanen-Experte Elard Meyer wartete auch mit einer christlich-trinitarischen Umdeutung des Quelle-Auge-Fluss-Mythos auf: Er interpretierte die Quelle als Gottvater, das Auge als Jesus Christus und das fließende Wasser als Heiligen Geist.
Wasser und Gott
Warum bringen so viele Kulturen die Wasserquelle, das Auge und existenzielle menschliche Fragen zusammen?
Vielleicht spielte ursprünglich die Vorstellung vom Auge als Tränenquelle eine Rolle, die einen Bach entstehen lässt. Die Bedeutungsnähe taucht in vielen Sprachen auf, auch in solchen, die überhaupt nicht miteinander verwandt sind. Manche Forscher meinen deshalb, in dem Phänomen einen uralten menschlichen Archetyp erkennen zu können. Andere wenden ein, dass auch die Form von Gewässern eine Rolle spielen könnte: So heißt beispielsweise der runde Kolk der Lippequelle bei Paderborn im Volksmund bis heute "Odins Auge". Von oben betrachtet können Seen wie Augen wirken – Bäche wie das, was als Tränen aus ihnen rinnt.
Im Islam ist das Paradies ein prächtiger Garten, durch den reines, kühles Wasser fließt. Und über Allah heißt es im Koran: "Er ist es, der aus Wasser menschliche Wesen erschafft." (Sure 25:54) Zahlreiche Hadithe der islamischen Tradition drehen sich wiederum um die Frage, was man gegen "Al-’Ayn" (das Auge / den Bösen Blick) tun könne. Dahinter steht die magische Vorstellung, Menschen könnten einander mit ihren neidischen oder missgünstigen Blicken schaden. "Der schädliche Blick ist wie ein Pfeil, der aus der Seele des Neiders kommt und denjenigen, dem der schädliche Blick passiert, manchmal trifft und ihn manchmal verfehlt. Wenn das Ziel des Neiders ungeschützt und dem schädlichen Blick frei ausgesetzt ist, wird es von ihm getroffen, aber wenn das Ziel [die Zielperson] geschützt und vorsichtig ist, wird der Pfeil es nicht treffen können und könnte sogar auf den Neider zurückkommen und ihn selbst treffen", heißt es in einer bis heute von Salafisten zitierten Fatwa des hanbalitischen Gelehrten Ibn Qaiyim al-Dschauziya (1292-1350).
Hamsa, die Hand der Fatima, ist deshalb in vielen Fahrzeugen in der islamischen Welt zu finden. Viele Menschen tragen sie als Schmuck. Das Hand-Auge-Symbol gilt als Schutz vor allem Bösen – besonders aber als die beste Abwehr von Dschinn-Geistern und dem Bösen Blick.
Wasser und der Ursprung der Existenz
Nicht ohne Grund gibt es auch in der deutschen Sprache den Ausdruck "etwas wie seinen Augapfel hüten". Das Sehvermögen ist in vielen Kulturen und Religionen Sinnbild des Lebens, Blindheit dagegen Symbol des Todes.
Blitzende Gewässer wirken manchmal, als blickten sie den Betrachter an. Ihr Grund ist dabei oft verborgen und rätselhaft. Gewässer können Schätze wie das Rheingold im Nibelungenlied bergen und Schreckliches wie die Quellnymphen der griechischen Mythologie. Denn das Auge Gottes ist im Brunnen oder in der Quelle verborgen – die nun ihrerseits den Betrachter anzublicken scheint.
Auch im Hinduismus gilt das Wasser als Ursprung der Existenz. Wasser bringt die Seelen ins Nirwana – oder zu einer weiteren irdischen Wiedergeburt. Fast alle heiligen Orte in Indien sind vom Wasser bestimmt. Ein Bad in segensreichem Wasser reinigt nicht nur körperlich, sondern auch geistig-seelisch. Der Ganges, Indiens berühmtester von mehreren heiligen Flüssen, entspringt im Himalaja. Wer sich in ihm wäscht, verbessert sein Karma und bringt sich so der erhofften Befreiung aus dem Rad der Wiedergeburt näher.
Lebendiges Wasser
Unreinheit vor Gott, heißt es in der Bibel im 3. Buch Mose, ist nur mit "mayim chayim" – "lebendigem Wasser" – abzuwaschen. Unter dem, was sich auf Hebräisch so einprägsam reimt, versteht die jüdische Tradition schlicht fließendes Wasser. Auch Luther hat die Passage so übersetzt. Ein jüdisches Ritualbad (Mikwe = "Wassersammlung") muss deswegen von Quell- oder Grundwasser gespeist werden; Regenwasser ist auch zulässig.
Der Begriff des "lebendigen Wassers" lädt förmlich zu magisch-esoterischen Spekulationen ein. Dass man damit gutes Geld verdienen kann, zeigt die Geschichte des Tirolers Johann Grander (1930-2012). Der behauptete, Wasser sei ein lebender Organismus und besitze deshalb auch ein Immunsystem. Mit dem Versprechen, durch ein "Grandergerät" mit "Informationswasser" in der Wasserleitung schlappes Trinkwasser zu "beleben", macht die Firma des "Tiroler Wassermanns" Millionenumsätze. Seine Erkenntnisse habe er, sagte Grander, von Gott und seit ihm Jesus Christus erschienen sei.
Hat Wasser ein Gedächtnis?
Wird Wasser in seiner Struktur beeinflusst von den Stoffen, die in ihm gelöst sind, wie es bewegt wird – und kann es sich diese Informationen "merken"? Über diese Frage tobt ein besonders heftiger Streit. Für die einen ist das "Wassergedächtnis" pseudowissenschaftlicher Unfug oder esoterischer Unsinn, für andere ein großes wissenschaftliches Rätsel.
Denn was hätte es für Folgen, wenn der Urstoff des Lebens selbst ein Informationsspeicher wäre – nicht nur eine chemische Formel, sondern selbst Informationen speichert? Was bedeutet das für unser Trinkwasser? Was sind dann Bäche, Flüsse, Seen, Ozeane?
Die Behauptung eines Wassergedächtnisses gehört neben dem Prinzip "similia similibus curentur" (Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden) zu den Grundannahmen der Homöopathie. Hochpotenzen sollen die Wirksamkeit homöopathischer Mittel steigern. Unter Potenzierung (abgeleitet vom lateinischen potentia = Kraft, Wirksamkeit) verstand Homöpathie-Erfinder Samuel Hahnemann (1755-1843), dass unter dem Einfluss des intensiven Schüttelns (Dynamisation) die Wirksamkeit der homöopathischen Mittel noch gesteigert wird. Als "homöpathische Dosen" sind die alternativen Medikamente meist so stark verdünnt, dass rechnerisch kein Molekül des ursprünglichen Wirkstoffs mehr enthalten sein kann. Dank eines "Gedächtnisses des Wassers" sollen sie trotzdem helfen.
Forschungsskandal um eine Selbsttäuschung
Zum Bedauern der Homöopathie-Gläubigen hat sich eine Langzeit-Speicherfähigkeit des Wassers bisher wissenschaftlich nicht nachweisen lassen. Eine lang anhaltende Kontroverse begann 1988: Der französische Mediziner Jacques Benveniste (1935-2004) veröffentlichte damals in der renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature eine Studie, die eben dies behauptete und auch zu beweisen schien. Nature setzte eine Untersuchungskommission ein, die allerdings zu dem Ergebnis kam, die Ergebnisse beruhten auf "Selbsttäuschung" und seien eine "Illusion". Im Zuge der Kontroverse verlor der Forscher, der Direktor mehrerer Forschungsgruppen war, seinen Job bei einem führenden staatlichen Forschungsinstitut.
Damit nicht genug: Harvard-Forscher traten nach, indem sie Benviste 1991 mit dem jährlich verliehenen "ig-Nobelpreis" auszeichneten. "Ignoble" wie unwürdig: Den augenzwinkernden Preis für absurde Wissenschaft hat auch schon der Ufologe Erich von Däniken erhalten. Für Benvistes Anhänger war das nur ein weiterer Beweis, dass es eine Verschwörung der Pharmaindustrie gegen die Wasserwahrheit gebe.
Mozart und Heavy Metal
Der Japaner Masaru Emoto (1943-2014) versuchte mit Fotos von Eiskristallen, die Merkfähigkeit von H2O nachzuweisen. Er setzte Wasser klassischer Musik und Heavy-Metal-Klängen oder den Bildern von Gewaltvideos aus, während er es einfrieren ließ. Die einen Kristalle waren schön und ebenmäßig sechseckig geformt, die anderen unregelmäßig und entstellt. Daraus zog Emoto den Schluss: "Mozart, Beethoven oder Bach waren also nicht nur große Musiker, sondern auch große Heiler." Und als er die Schriftzeichen "Liebe und Dankbarkeit" auf Wasser übertrug, habe "das Wasser die allerschönsten Kristallbilder gezeigt".
Eher von Beobachtungen in seiner oberösterreichischen Waldheimat inspiriert war der Förster und Erfinder Viktor Schauberger (1885-1958). Er war fasziniert von der Beobachtung, dass Forellen bewegungslos gegen den Strom in Flüssen stehen können. Er schloss daraus, dass man die Energie von Verwirbelungen im Wasser nutzen könne. In den 1920er-Jahren gelang es ihm, seine Theorie in innovativen Holzschwemmanlagen für die Forstwirtschaft erfolgreich umzusetzen.
Mit dem Etikett "nach Schauberger" werden heute ebenfalls dubiose Apparaturen zur "Belebung" des Wassers verkauft. Doch eigentlich tut man dem Verwirbelungsspezialisten damit unrecht, dessen Erkenntnisse sich im modernen Flussbau niedergeschlagen haben.
"Lebende" Flüsse, wiederbelebte Flüsse
Otmar Grober, Flussbaumeister aus der Steiermark, hat "nach Schauberger" und wissenschaftlich begleitet von der TU Graz das "Instream River Training" entwickelt. Begradigte Flussläufe haben viel höhere Fließgeschwindigkeiten als natürliche. Wasser drängt in Flussbiegungen dann nach außen und greift das Ufer an. Durch den Einbau von "Lenkbuhnen", "Pendelrampen", Trichtern und Schnecken aus Natursteinen lenkt Grober das "Innenleben" eines Flusses in die Mitte des Laufs. Dass es funktioniert, konnte Grober bereits an der Dreisam bei Freiburg oder dem Fluss Wiese in Lörrach nachweisen. Auch der Isar-Rückbau bis nach München war von diesen Ideen inspiriert.
Otmar Grober ist überzeugt, dass Bäche und Flüsse hochkomplexe, "lebendige" Systeme sind. Aber hat Wasser deshalb auch ein "Gedächtnis"?
Eine Pikosekunde kann lang sein
Ein Team von Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz konnte 2015 dies erstmals wissenschaftlich nachweisen: Wasser hat ein Gedächtnis – wenn auch ein sehr, sehr kurzes.
Wasser ist ein "polares" Molekül: Die zwei Wasserstoffatome und das eine Sauerstoffatom bilden ein Dreieck mit asymmetrischer Verteilung der elektrischen Ladung. Der Sauerstoff ist negativ, Wasserstoff positiv geladen. Dadurch haben die Wassermoleküle eine große "Anziehungskraft" zueinander. Wasser bildet Wasserstoffbrücken aus, die Moleküle orientieren sich zueinander und bilden dabei mehr oder weniger geordnete Strukturen – komplexe Polymere mit allerdings sehr geringer Haltbarkeit.
Jedes Molekül kann Kontakte mit bis zu vier Nachbarn knüpfen. Im Eis sind die Wasserstoffbrücken starr fixiert. Diese Eiskristalle sind eine Gefahr für jedes Leben: Sie treiben gelöste Substanzen aus ihrem Gitter und zerstören rein mechanisch die Strukturen im Inneren von Zellen. Natürliche Protektoren der Zellen gegen die Bedrohung des Lebens durch das Eis sind Alkohole wie Glycerol und sogenannte Gefrierschutzproteine.
Mithilfe neuartiger ultraschneller Schwingungsspektroskopie konnten die Forscher zeigen, dass die örtlichen Bindungskonfigurationen in flüssigem Wasser viel länger halten als erwartet. Nämlich länger als eine ganze Pikosekunde! Das ist die Dauer des Billionstels einer Sekunde oder 10-12 Sekunden – irgendwo zwölf Stellen hinter dem Komma.
Wer jetzt lacht, sollte wissen: Die Wissenschaft ist von dem Ergebnis trotzdem elektrisiert. Eine Pikosekunde ist im atomaren Bereich eine Ewigkeit, weswegen die Beobachtung der Mainzer Forscher den Blick aufs Wasser als Kommunikationsmedium des Lebens grundsätzlich verändert hat. Ein Großteil der Lebensprozesse und chemisch-biologischen Reaktionen findet auf der Erde in Wasser oder an Wassergrenzflächen in Meeren oder Wolken statt. Wie Wasser sich dort auf molekularer Ebene verhält, ist für das Verständnis der Welt von größter Bedeutung.
Mit esoterischen Vorstellungen haben derlei Befunde also wenig zu tun. Eher sind sie der Beweis, dass die Menschheit gerade erst beginnt, die Größe des Rätsels "Wasser" zu ermessen.