Kein Wunder, dass die Geschichte von Carlisle bald wie ein Lauffeuer die Runde machte und in den unterschiedlichsten Variationen zur Legende wurde: Mal heißt der Vater in der pennsylvaniadeutschen Folklore Johann Hartmann, mal ist der für amerikanische Ohren sperrige Namen Regina zu "Rachel" mutiert. Auch dass Reginas Lenape-Stamm sie wegen ihrer Schönheit "Sawquehanna", weiße Lilie, genannt haben soll, gehört wohl ins Reich dieser Legenden.

Pfarrer Mühlenberg hat Reginas Geschichte selbst mehrfach überarbeitet und dabei die erbaulichen Passagen kontinuierlich erweitert. Er erzählt die Geschichte einer Errettung aus babylonischer Gefangenschaft, der ein Leidensweg vorausgeht, bei dem immer wieder die Passion Jesu anklingt.

Marketing in der Heimat

Warum machte Mühlenberg das? Es ging dabei auch um Spenden und um wirksames Marketing in der deutschen Heimat.      

Heinrich Mühlenberg - in den USA ist er als Henry Melchior Muhlenberg bekannt - war ebenfalls aus Halle nach Pennsylvania geschickt worden. 1711 im hannoverschen Einbeck geboren, kam er nach seinem Studium in Göttingen als Lehrer an das Hallesche Waisenhaus. Von dort schickte ihn Gotthilf August Francke, Sohn des Stiftungsgründers, 1742 nach Philadelphia, um dort die deutschen lutherischen Gemeinden von Philadelphia, New Hanover, Providence und Germantown sowie neu entstehende Landgemeinden zu versorgen.

Dass er drei Jahre später Anna Maria Weiser heiratete, die Tochter des einflussreichen deutschen Pennsylvania-Pioniers Conrad Weiser, beförderte seinen Aufstieg zum "Kirchenvater der lutherischen Kirche in Nordamerika". Statt radikaler pietistischer Gemeinden à la Zinzendorf setzte sich mit ihm der pietistisch-lutherische Mainstream durch. Und das von ihm gegründete "Deutsche Evangelisch-Lutherische Ministerium von Pennsylvania" entwickelte sich nach der amerikanischen Unabhängigkeit zur Synode, also zur eigenständigen Kirche.

Aufstieg zur einflussreichen amerikanischen Dynastie

Mühlenbergs Familie wurde zu einer einflussreichen amerikanischen Dynastie. Sein Sohn Frederick Augustus Conrad Muhlenberg (1750-1801) war der erste "Speaker" des US-Repräsentantenhauses und soll der Legende nach dafür gesorgt haben, dass Deutsch nicht zur zweiten Amtssprache der jungen Vereinigten Staaten wurde.      

Zur bibelfrommen pietistischen Erweckung gehörte auch die Praxis des des "Däumelns". Dabei greift man mit dem Daumen willkürlich zwischen die Seiten der Bibel, um so einen Bibelspruch auszuwählen und als Orakel zu deuten. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine und überzeugter Lospraktiker, regte diese Praxis ausdrücklich an.

Auch Mühlenberg ließ Regina zum Abschluss ihres Berichts "däumeln". Die junge Frau hatte behauptet, sie spreche zwar kein Deutsch mehr, lesen könne sie die Lutherbibel aber noch immer. Nun schlägt sie mit dem Daumen einen schier unglaublich treffenden Vers aus dem Buch Tobit auf: "[d]erselbige ward mit gefangen zu den Zeiten Salmanasser, des Königes in Assyrien. Und wiewohl er also unter den Fremden gefangen war, ist er dennoch von Gottes Wort nicht abgefallen."

"Unter den Händen der Barbaren"

Eine erbauliche Pointe, die etwas zu gut passt? Es war jedenfalls kein Zufall, dass Reginas Geschichte in Deutschland zuerst 1769 in den "Hallischen Nachrichten" zu lesen war - Überschrift: "Unter den Händen der Barbaren". Halle und die "Franckeschen Anstalten" waren Ausgangs- und Bezugspunkt von Mühlenbergs Mission. Und Mühlenberg wusste, was die Leser in Halle und andernorts in Deutschland lesen mussten, damit sich die Geldbeutel für Spenden zugunsten der nordamerikanischen lutherischen Gemeinden öffneten. In einer Fußnote wies Mühlenberg darauf hin, dass die Lieder "Jesum lieb ich ewiglich" und "Allein und doch nicht ganz allein", die Regina durch ihre Gefangenschaft begleiteten, auch im Hallischen Stadt-Gesangbuch zu finden seien.     

Bis heute singt man in den evangelisch-lutherischen Kirchen Pennsylvanias die englische Übersetzung der Schmolck-Verse Reginas:

"Alone, yet not alone am I, / Though in this solitude so drear; / I feel my Saviour always nigh, / He comes the very hour to cheer; / I am with Him, and He with me, / E’en here alone I cannot be".

Insgesamt rund 1.000 Lieder dichtete der Schlesier Benjamin Schmolck bis zu seinem Tod 1737. Die Erbauungs- und Gebetbücher des dichtenden Pfarrers der Schweidnitzer Friedenskirche fanden weite Verbreitung und wurden immer wieder aufgelegt. Fast jedes Zehnte seiner Lieder ist auf die Melodie von "Wer nur den lieben Gott lässt walten" zu singen. Anders als in den USA ist "Allein, und doch nicht ganz alleine" bei uns heute nahezu vergessen. Einige Schmolck-Lieder singen deutschsprachige Protestanten aber bis heute. Das bekannteste ist "Tut mir auf die schöne Pforte" (EG 166).

Roman "Alone Yet Not Alone"

Dass es der fromme Dichter mit seinem Lied beinahe bis zur Oscar-Verleihung 2014 geschafft hätte, hat er einer Nachfahrin von Barbara Leininger zu verdanken: In ihrem 2003 erschienenen, erfolgreichen Roman "Alone Yet Not Alone" erzählt Tracy Leininger Craven die Geschichte in der Form des Abenteuerromans und zugleich als Glaubens- und Bewahrungsgeschichte.

Cravens Buch war die Vorlage für den unabhängig produzierten christlichen Film "Alone Yet Not Alone", der im vergangenen September in wenigen US-Kinos zu sehen war.

Aber lässt sich eine "Frontier"-Geschichte, eine Geschichte kulturellen Begegnung zwischen den Urvölkern Amerikas und Europäern, heute noch im pietistischen Geist des 18. Jahrhunderts erzählen? Tatsächlich wirkt, was in den Vorschauen von dem Films zu sehen ist, mitunter unfreiwillig komisch. An sich ambitioniert in der Ausstattung, bezaubern da bei den gefangenen Mädchen amerikanisch perfekte weiße Zahnreihen und aparte Frisuren.       

Zwischen Sebastian Leininger, auf Englisch mit kuriosem deutschen Akzent, und seinen Töchtern kommt es beim Bibelstudium der Familie zu einem platten Dialog, aus dem die Ideologie der heutigen amerikanischen christlichen Rechten trieft: "Regina, erinnerst du dich, warum deine Mutter und ich in dieses Land kamen?" - "In Amerika sind wir keines Menschen Sklave" - "Das ist richtig mein kleiner Engel. Gefahr, Kämpfe - und Opfer, sie gehen Hand in Hand. Sie sind der Preis, den wir für unsere Freiheit bezahlen." Dann fragt Barbara: "Auch wenn die Indianer angreifen?" Und der Holzschnitt-Sebastian antwortet: "Ja, Barbara, selbst wenn sie uns umbrächten, wir wären immer noch frei. Und was könnte wundervoller zu sein, als von unserem schönen Tal geradewegs in den Himmel zu kommen?"

Dann schlägt die schöne schwäbische Uhr auf dem Kaminsims. Sie wird im Film später ebenso dem grausamen Schlag eines Delaware-Tomahawks zum Opfer fallen wie der Schädel von Sohn Johann Leininger in der Realität.

Nur: Wie schafft es ein solcher Film zur Oscar-Nominierung?

Das liegt daran, dass für die Filmmusik der renommierte Hollywood-Komponist Bruce Broughton zusagte. Und das Titellied sang die kalifornische Autorin, Künstlerin und evangelikale Predigerin Joni Eareckson Tada. Die heute 64-Jährige verunglückte 1967 bei einem Badeunfall und ist seither vom Hals an gelähmt. Als Malerin führt sie den Pinsel mit dem Mund. Sie hat 35 Bücher verfasst, die über drei Millionen Mal verkauft wurden. 1979 gründete sie das Hilfswerk für Menschen mit Behinderung "Joni and Friends" (Joni und ihre Freunde).

Doch der Jubel unter den evangelischen Christen Amerikas über die Nominierung währte nicht lange. Nach nur wenigen Tagen kam die "Academy of Motion Picture Arts and Sciences", die die "Oscars" vergibt, zu dem Schluss, Komponist Broughton, der auch Ex-Vorstandsmitglied und Ausschussvorsitzender der Academy ist, habe per E-Mail an 70 von 240 stimmberechtigten Mitgliedern unerlaubt für seinen Song geworben. Sie zog die Nominierung zurück. In der 85-jährigen Geschichte der Oscars kam derlei erst sieben Mal vor.

Unfaire Behandlung durch das "Mainstream-Hollywood"?  

Konservative Christen in den USA wittern nun unfaire Behandlung durch das "Mainstream-Hollywood", das viele von ihnen für durch Juden oder Scientologen bestimmt halten. Komponist Broughton hat seine unerlaubte Werbemaßnahme als Notwehr einer kleinen Produktion gegen die gewaltigen Werbeetats des großen Hollywood-Kinos verteidigt.

Nominiert, und doch nicht nominiert: In Sachen Publicity hätte "Alone Yet Not Alone" kaum etwas Besseres passieren können, als der kleine Oscar-Skandal. Nachdem der Film Ende September nur in wenigen Kinos zu sehen war, kommt "Alone Yet Not Alone" nun am 13. Juni landesweit in die US-Kinos. Auch nach Deutschland will die christliche Produktionsfirma "Enthuse Entertainment" den Film bringen.

Und den Oscar für den besten Filmsong? Den holte sich wieder einmal ein Disney-Film. Der eher langweilige Titelsong von "Frozen" war Favorit, und er klingt wie ein Schlusswort unter die Affäre: "Let It Go"