Manchmal möchte man in den Kopf von Ministerpräsident Markus Söder blicken können: Nicht lange nach der Bundestagswahl hat er die Füße still gehalten. Schon wieder setzt er zum Aufschlag an: Er will die im Dezember im Bundestag beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht mehr oder weniger aussetzen. Vor der Bundestagswahl regierte also Mr. Vorsicht, und jetzt sollen sich alle mal schön locker machen und den Einstieg in den Ausstieg beginnen?

Teil-Impfpflicht könnte die ohnehin schon angespannte Personalsituation in der Pflege verschärfen

Nun, ganz von der Hand zu weisen ist seine Argumentation nicht: Auch der Deutsche Pflegerat warnte, dass schon jetzt alles eng auf Kante genäht sei. Zu befürchten ist, dass die Teil-Impfpflicht die ohnehin schon angespannte Personalsituation in der Pflege verschärfen könnte.

Aber das ist nicht alles. Mit dem bayerischen Bremsmanöver hat die Debatte eine neue Stufe erreicht: Erst wurde diskutiert, ob es eine Impfpflicht wirklich braucht. Dann, ob die Parlamentarier darüber nach Parteilinie oder Gewissen entscheiden. Und nun ist die dritte Stufe erreicht: Lässt sich die Impfpflicht in der Praxis umsetzen? Und ist sie angesichts der milderen Omikron-Variante überhaupt noch nötig?

Deutschland hat den richtigen Zeitpunkt für die Einführung der Impfpflicht verpasst

Der Verdacht liegt nahe, dass Söder mit seiner Verzögerungstaktik auch die Stimmung beim Wahlvolk im Blick hat. Denn 75 Prozent der Deutschen glauben nicht mehr, dass die Impfpflicht noch kommt. Die Menschen spielen längst wieder offensiv Alltag. Draußen tobt die Pandemie zwar heftiger als zuvor, aber gefühlt ist sie für viele schon vorbei.

In Ländern wie Dänemark, Schweden oder Großbritannien wird dank hoher Impfquote bereits gelockert, während hierzulande noch immer über die Impfpflicht diskutiert wird. Deutschland hat den richtigen Zeitpunkt für die Einführung verpasst, weil sie die Menschen nicht mehr mitnehmen kann, weil Corona mit Omikron seinen Schrecken verloren hat.

"Wir können uns nicht aussuchen, welche Gesetze für uns gelten"

Für den Vorstoß der Bayerischen Staatsregierung, die einrichtungsbezogene Impfpflicht vorerst nicht umzusetzen, hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach wie zu erwarten wenig übrig: "Wir können uns nicht aussuchen, welche Gesetze für uns gelten", sagte er. Alle CSU-Bundestagsabgeordneten hatten im Dezember der Teil-Impfpflicht zugestimmt. Auf die Regierung lässt sich das also nicht schieben.

Ob die Rechnung mit dem aktuellen parteitaktischen Hin und Her aufgeht, ist zu bezweifeln. Im Gegenteil: Es könnte erneut Vertrauen kosten. Denn wenn bis zum Herbst keine hohe Immunität in der Bevölkerung erreicht wird, dann werden wir alle pandemisch nachsitzen müssen.