In Erinnerung an die Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl hat sich der auf den 26. April folgende Samstag als Tag der erneuerbaren Energien etabliert. Dieses Jahr ist das der 30. April. 

Horst Hamm ist Mitglied der Nuclear Free Future Foundation. Die Stiftung will über die Gefahren der Nutzung der Atomtechnologie zu zivilen und militärischen Zwecken aufklären. Hamm ist Mitautor des Uranatlas', im April erscheint dessen zweite Auflage. Im Interview erklärt er, warum Erneuerbare Energien die Zukunft sind und warum wir immer noch zu sehr an der Vergangenheit hängen. 

"Wer von Energie aus Russland unabhängig werden will, darf gerade nicht auf Atomkraft setzen."

Der bayerische Ministerpräsident Söder ist angesichts des Ukraine-Kriegs der Meinung, dass wir Atomkraft doch länger brauchen. Wie sehen Sie das?

Horst Hamm: Alle, die fordern, mit Atomkraft von Russland unabhängiger zu werden, verkennen die Realitäten. Nicht Atomkraft-Gegner, sondern die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) sagt, 20 Prozent des Urans, das Europa verbraucht, kommt aus Russland. Weitere 19 Prozent kommen aus Kasachstan. Der russische Atomkonzern Rosatom ist an vier Uranminen-Projekten in Kasachstan beteiligt. Wer also von Energie aus Russland unabhängig werden will, der darf gerade nicht auf Atomkraft setzen.

Wäre es denn wenigstens ein Beitrag zum Ausbau klimaneutraler Energie?

Hamm: Atomkraft verursacht zwar im Vergleich zu Öl und Gas oder gar Kohle relativ wenig CO2. Allerdings weit mehr als Windkraft oder Sonnenenergie. Ich zitiere gerne einen Aktivisten, der in einem Vortrag gesagt hat: ‚Das Steinzeitalter ist nicht zu Ende gegangen, weil den Menschen die Steine ausgegangen sind. Das Steinzeitalter ist zu Ende gegangen, weil die Menschen auf bessere Ideen gekommen sind.‘ Und wir haben mit den erneuerbaren Energien eine Ressource, die ist völlig gefahrlos, die wird uns von der Natur, sprich der Sonne, ständig zur Verfügung gestellt und sie ist weltweit verfügbar.

"Die Erneuerbaren sind kostengünstiger, schneller zu bauen und völlig gefahrlos."

Also sehen Sie Atomkraft weder als Weg in die Unabhängigkeit von Russland noch als Alternative zu Öl und Gas?

Hamm: Richtig, und billig ist sie auch nicht: Wenn man den Inflationsausgleich dazurechnet, sind wir heute bei 13,5 Cent pro Kilowattstunde Atomstrom. Photovoltaik auf der Freifläche kostet in Süddeutschland nur zwischen 3,1 und 4,1 Cent pro Kilowattstunde. In Norddeutschland sind wir bei 4,2 bis 5,7 Cent. Bei der Windkraft sind wir Onshore in Deutschland bei 3,9 bis 8,2 Cent und bei Offshore bei 7,2 bis 12 Cent. Also die Erneuerbaren sind kostengünstiger, sie sind schneller zu bauen und, wie ich vorhin schon gesagt habe, völlig gefahrlos. Es ist die Zukunft.

Trotzdem haben wir in Bayern nach wie vor die 10-H-Regel und andere Strukturen, die den Wandel erschweren. Was hindert uns denn, die Zukunft anzugehen?

Hamm: Es gibt durchaus rationale Gründe, ein Kohlekraftwerk oder ein Atomkraftwerk weiterlaufen zu lassen – wenn man sieht, welchen Gewinn man damit machen kann. Das sind natürlich die Gewinne von wenigen, aber die haben sehr wohl gute Gründe, daran festzuhalten. Aber wenn man von der Volkswirtschaft aus und gesellschaftlich denkt, dann spricht wenig dafür.

"Wir brauchen eine lokale Energieversorgung, bedarfsgerecht vor Ort."

Wie schnell könnte eine vollständige Umstellung auf Erneuerbare denn gehen?

Hamm: Laut einer Studie können wir schon bis 2030 unseren Bedarf zu 100 Prozent mit Erneuerbaren decken. Wir brauchen dafür allerdings einen Systemwechsel weg von den großen Kraftwerken hin zu den Regenerativen in der jeweiligen Region. Wir brauchen eine lokale Energieversorgung, bedarfsgerecht vor Ort. Dann braucht es auch nicht diese riesigen Überlandleitungen oder die Diskussion, dass wir nach Afrika gehen und dort den Strom erzeugen müssen.

Horst Hamm
Dr. Horst Hamm, Jahrgang 1953, studierte Literaturwissenschaften und Sport an den Universitäten Freiburg und Oldenburg. Er wehrte sich bereits als junger Mann gegen die Militarisierung in Deutschland. Weil er als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt wurde, landete er im Militärgefängnis und trat dort in Hungerstreik. Heute arbeitet er als Journalist und als Sprecher der Nuclear Free Future Foundation. Er lebt in München, ist verheiratet und hat drei Kinder.

Wie genau müssen wir uns den von Ihnen erwähnten Systemwechsel vorstellen?

Hamm: Eine Gesellschaft, die sich zu 100 Prozent mit Erneuerbaren versorgt, wird eine andere Gesellschaft sein als die, die wir heute haben. Nehmen wir den Verkehrsbereich, der seit 1990 – das Jahr wird ja immer zum Maßstab genommen –keinerlei Emissionen gesenkt hat. Das hat zwei Gründe. Wir haben etwa 50 Prozent mehr Autos auf den Straßen als 1990. Und wir haben deutlich größere Autos. Viele Modelle sind heute einfach doppelt so schwer und gleichzeitig kaufen sowieso über 20 Prozent lieber gleich einen SUV. Das ist unsere Art, wie wir leben.

"Wir hatten für Jahrzehnte eine Politik, die einseitig darauf gesetzt hat, das Auto für jegliche Fortbewegung zu nutzen."

Wie kommen wir davon weg?

Hamm: Der Verkehrsforscher Heiner Monheim sagt, wenn wir etwas in dem Bereich ändern wollen, müssen wir immer den Raum mitdenken – dann wird sofort etwas passieren. Ein Beispiel: Die Stadt München hat das Gymnasium meiner Kinder renoviert. Und was hat die Stadt gemacht? Sie hat die Lehrer Parkplätze drastisch verkleinert, um den Lehrern zu zeigen: Wir haben hier öffentliche Verkehrsmittel, du kannst mit dem Bus und mit der U-Bahn zur Schule kommen. Raum mitdenken heißt also, man muss Angebote machen, was öffentlichen Verkehr angeht. Und man muss die Parkplätze verringern. Dann werden die Menschen reagieren. Wir hatten für Jahrzehnte eine Politik, die einseitig darauf gesetzt hat, das Auto für jegliche Fortbewegung zu nutzen.  Allein schon die Entscheidung, aus der Bahn, aus einem Staatsunternehmen ein gewinnorientiertes machen zu wollen, war ein richtiger Irrweg.

Warum?

Hamm: Noch ein Beispiel: Die Bahn machte vor rund 15 Jahren eine Untersuchung und stellte dabei fest, in Schleswig-Holstein ist die Zugverbindung in die letzte Stadt vor der dänischen Grenze so gut wie nicht mehr besucht. Das lohnt sich nicht. Was macht die Bahn? Sie stellt die Verbindung einfach ein. Wenige Jahre später wird die nächste Untersuchung gemacht und da geht es um die Verbindung zur vorletzten Stadt vor der Grenze zu Dänemark. Und sie stellt fest, die Fahrgastzahlen sind so niedrig, dass es sich nicht mehr lohnt, diese Verbindung aufrecht zu erhalten und stellt sie auch ein. Diese Logik widerspricht allen Erkenntnissen der Verkehrs Forscher, die sagen: Wir brauchen überall kurze Taktungen und eine gescheite Verbindung. Dann nutzen die Leute es auch, nicht umgekehrt.

"Wir sind seit Jahrzehnten auf dem falschen Weg."

Es ist also ein grundlegendes Umdenken in vielen Bereichen nötig?

Hamm: Ja, wir sind seit Jahrzehnten auf dem falschen Weg. Und da sind wir auch gedanklich noch nicht so weit, dass wir sagen, das muss alles anders werden. Wir sind da auch alle gefordert, etwas zu tun. Ich weiß nicht, wie das heute ist mit modernen Geräten, aber es gab eine Studie, der zufolge hätte man einen Atommeiler stilllegen können, wenn alle Geräte auf Standby abgeschaltet worden wären.

"Wir müssen uns fragen: Wie kriegen wir unseren Energieverbrauch drastisch gesenkt?"

Sehen Sie uns da denn immerhin auf einem guten Weg?

Hamm: Also, wenn ich jetzt die Debatte angucke: ‚Wie kommen wir weg von Öl, Gas und Kohle?‘ ist seit dem Ukraine-Krieg quasi jeden zweiten Abend in den Talkshows zu beobachten ist. Es ist aber noch kein Aufruf gekommen: Wie kriegen wir unseren Energieverbrauch drastisch gesenkt, um überhaupt weniger zu brauchen? Stattdessen wird überlegt: Wie können wir die hohen Kosten, die mit den Preissteigerungen für Benzin und Gas einhergehen, kompensieren? Ich habe heute eine Wissenschaftlerin gehört, die sagt, das ist der völlig falsche Weg. Hingehen und schauen, wie können wir den Verbrauch reduzieren und wie können wir zumindest mittelfristig all diese fossilen Kraftstoffe mit Erneuerbaren ersetzen – das ist der Weg.

Glauben Sie, die Politik traut sich da teilweise auch nicht, den Leuten reinen Wein einzuschenken?

Hamm: Ein Stück weit schon. Die Grünen haben in den Neunzigerjahren mal gefordert: Wir brauchen fünf Mark für den Liter Benzin. Die Legislatur darauf waren sie nicht im Bundestag. Im Prinzip geht es ja nicht nur darum, den Leuten die Wahrheit zu sagen. Es geht auch darum, die richtigen Förderprogramme zu machen. Es geht darum, auch den Leuten zu sagen: Hör zu, ich helfe dir. Wenn du sanierst, dann unterstütze ich dich. Damit die Subventionen auch in die richtige Richtung gehen. Denn wenn wir heute noch hingehen und sagen, wir fördern jeden beruflich mit dem Auto gefahrenen Kilometer, den du fährst, mit 0,30 € Steuerersparnis, dann ist das eine Subvention, die mit der Gießkanne rausgeht. Wenn wir aber hingehen und sagen, wir machen diese Förderung auch vom ökologischen Standard eines Autos abhängig, so nach dem Motto: Wenn du einen schweren, PS-starken Benziner fährst, der 150 Gramm CO2 pro Kilometer verursacht, dann ist halt die Förderung nur halb so groß – das ist ja alles denkbar.

"Die Zukunft ist weg vom Verbrennungsmotor, weg von Öl- und Gasheizungen und weg von Kohlestrom. Und Atomstrom ist sowieso bald zu Ende."

Also sollten wir einfach die richtigen Anreize schaffen?

Hamm: Genau. Man muss die richtigen Anreize schaffen, um den Leuten zu zeigen: In diese Richtung wollen wir vorangehen und dabei wollen wir dich unterstützen. Das ist die Zukunft. Und die Zukunft ist weg vom Verbrennungsmotor. Die Zukunft ist weg von Öl und Gasheizungen und die Zukunft ist weg von Kohlestrom. Und Atomstrom ist ja sowieso bald zu Ende.

Nicht, wenn es nach Herrn Söder geht….

Hamm: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Laufzeiten verlängert werden. Ich bin überzeugt davon, das funktioniert nicht so einfach. Es funktioniert auch deshalb nicht, weil auch die Betreiber der Atomkraftwerke Leute sind, die rechnen können. Die haben sich für ihre noch verbliebenen neun Monate mit Brennelementen eingedeckt und wenn der Dezember kommt, dann werden die nicht mehr viele übrig haben. Und jetzt einfach auf den Markt zu gehen und zu sagen: Wir brauchen doch noch Brennelemente für ein Jahr länger, ist schwierig.