Die Atomkraft spielt im Krieg Russlands gegen die Ukraine gleich in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen hat der russische Präsident Putin mehr oder weniger offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Und zum anderen fordern manche jetzt, man müsse wieder auf Atomenergie setzen, um sich von Putins Gas unabhängig zu machen.

Horst Hamm ist Mitglied der Nuclear Free Future Foundation. Die Stiftung will über die Gefahren der Nutzung der Atomtechnologie zu zivilen und militärischen Zwecken aufklären. Hamm ist Mitautor des Uranatlas, im April erscheint dessen zweite Auflage. Im Interview führt er aus, warum der Einsatz selbst weniger atomarer Sprengkräfte schon fatale Folgen hätte, was statt Aufrüstung nötig ist, um Autokraten wie Putin die Grenzen aufzuzeigen und warum Atomenergie keine sinnvolle Alternative ist. 

Der russische Präsident Putin droht im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine auch mit dem Einsatz von Atomwaffen. Für wie realistisch halten Sie die Drohung?

Horst Hamm: Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich konnte mir vor einer Woche auch nicht vorstellen, dass Putin die Ukraine überfällt. Von daher wäre das jetzt Kaffeesatzleserei, weil ich nicht weiß, wie sehr dieser Machthaber noch an die Realität gebunden ist. Was ich weiß, ist, dass die Folgen eines atomaren Erstschlags, wie er ihn dem US-Präsidenten Biden angedroht hat, verheerend wäre. Wir wissen, was atomare Verwüstung bedeutet. Wir wissen auch, was atomare Verstrahlung bedeutet, beides durch Hiroshima und Nagasaki. Das darf natürlich keine Option sein.

Muss der Westen jetzt sein atomares Abschreckungspotential erhöhen, um das zu verhindern?

Hamm: Ich denke nicht, dass das die richtige Antwort wäre. Aufrüstung hat noch nie dazu geführt, dass Kriege verhindert wurden. Und ein Atomkrieg kennt keinen Sieger. Es gibt eine Studie, die die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW vor gut zehn Jahren veröffentlicht hat, die besagt: Würde es einen lokal begrenzten atomaren Konflikt zwischen Indien und Pakistan geben und diese beiden Atommächte würden nur ungefähr 100 Atombomben einsetzen, dann würde das zu einer weltweiten Hungerkatastrophe mit ein bis zwei Milliarden Toten führen.

"Wir haben bisher mit autokratischen Herrschern wie Putin Geschäfte gemacht"

Was wäre statt mehr Abschreckung für Sie der richtige Lösungsansatz?

Hamm: Wir haben bisher mit autokratischen Herrschern wie Putin Geschäfte gemacht und die einfach gewähren lassen. Putin hat die Krim besetzt, Putin hat Krieg in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien geführt. Nichts ist passiert. Ich kann andere Beispiele bringen: Wir arbeiten munter mit China zusammen, und China ist einer der Staaten, in dem die Menschenrechte überhaupt nichts gelten. Wer da überhaupt nur das Wort Menschenrechte in den Mund nimmt, wird im Lager enden. Ich habe nicht die Patentlösung, aber wir müssen uns als Land, in dem die freiheitlichen Werte etwas gelten, fragen: Wo setzen wir unsere Grenzen?

Horst Hamm
Dr. Horst Hamm, Jahrgang 1953, studierte Literaturwissenschaften und Sport an den Universitäten Freiburg und Oldenburg. Er wehrte sich bereits als junger Mann gegen die Militarisierung in Deutschland. Weil er als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt wurde, landete er im Militärgefängnis und trat dort in Hungerstreik. Heute arbeitet er als Journalist und als Sprecher der Nuclear Free Future Foundation. Er lebt in München, ist verheiratet und hat drei Kinder.

Eine konsequente Anwendung von Menschenrechts-Standards hätte allerdings vermutlich drastische wirtschaftliche Folgen, auch für uns, oder?

Hamm: Ich weiß, wie schwer es ist diese Standards einzuhalten. De facto ist es uns hier wichtig, Billigprodukte zu beziehen, egal wie. Wir haben Russland in allem gewähren lassen, Stichwort Nord Stream 2. Wir haben die Augen zugemacht, weiter gebaut und gesagt: Ja, das hat alles nichts damit zu tun. Noch vor zwei Wochen hat unser Kanzler das Wort nicht mal in den Mund genommen.

"Man kann Putin nur ernsthafte Diplomatie und unsere Fähigkeiten als Wirtschaftsmacht entgegensetzen."

Und jetzt stellt er mal eben 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in Aussicht.

Hamm: Ich kann jeden, der jetzt aufs Militär setzen will, verstehen. Wir haben Angst. Aber man kann Putin nur ernsthafte Diplomatie und unsere Fähigkeiten als Wirtschaftsmacht entgegensetzen. Was wir jetzt ja auch tun. Und gleichzeitig muss man auch diesem Autokraten die Möglichkeit geben, aus der Sackgasse Krieg und Konfrontation herauszukommen.

Ist das denn vorstellbar?

Hamm: Wenn es stimmt, dass die Ukrainer gewaltigen Widerstand leisten, dann hat er sich wahrscheinlich auf der Ebene schon verrechnet. Es geht nur über den Weg, wie kommen wir wieder an einen Tisch, um normale Nachbarschaft zu pflegen. Das ist nach einem solchen Angriff natürlich extrem schwer. Es ist trotzdem der einzige Weg.

Sie plädieren also für langfristige Strategien?

Hamm: Unbedingt. Wenn jetzt 100 Milliarden für die Rüstung bereitstellen: Wo bleibt dann das Geld für die anderen zentralen Aufgaben? Die Klimakrise löst sich nicht dadurch, dass wir nur auf Russland und die Ukraine starren. Und wir brauchen in dem Fall sogar gerade Staaten wie Russland, die durch ihren Öl- und Gas-Reichtum ganz zentral zur Klimakrise beitragen.

"Atomkraft macht wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn."

Manche bringen jetzt angesichts des Konflikts mit Russland ein Comeback der Atomkraft ins Spiel. Was halten Sie davon?

Hamm: Das löst bei mir Kopfschütteln aus. Dass die Atomkonzerne ein Interesse daran haben, bestehende Atomkraftwerke noch mal 10 oder 20 Jahre länger laufen zu lassen und damit so viel Geld als möglich rauszuholen, kann ich mir vorstellen. Aber Atomkraft macht wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn. Die fossilen Brennstoffe und Atomkraft sind nicht konkurrenzfähig mit erneuerbaren Energien. In den USA sind in den letzten Jahren sechs Reaktoren vorzeitig stillgelegt worden, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. Vergangenen September wollte ein AKW-Betreiber in Illinois aus dem gleichen Grund vier Atommeiler stilllegen. Erst nachdem der Bundesstaat Illinois vergangenen September fast 700 Mio. US-Dollar für die angeschlagene Nuklearsparte bewilligte, stoppte der Betreiber die angekündigte Entnahme der Brennelemente. Warum sollte ich auf diese Technologien weiter setzen? Hinzu kommt, dass der Abbau von Uran so gefährlich ist, dass ich von einer Verletzung der Menschenrechte der betroffenen Arbeiter und Anwohnerinnen spreche. Die ungelöste Endlagerfrage muss ich hier nicht nennen. Von daher ist die Entscheidung Deutschlands, Ende des Jahres die letzten drei Atommeiler abzuschalten, vollkommen richtig und ich hoffe, dass es dabei bleibt.

Sie sehen das also auch nicht als Zwischenlösung, um eine möglicherweise drohende akute Energiekrise abzumildern?

Hamm: Wissen Sie, wie hoch der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Energieversorgung ist? 4,3 Prozent. Atomkraft ist eben nur im Strombereich aktiv. Beim Heizen spielt sie keine Rolle. Wenn wir jetzt sagen, Atomkraft ist die Lösung oder ein Teil der Lösung, da kann ich nur sagen: Atomkraft ist teuer, zu langsam und hat bisher nichts bewirkt. Wir können nur auf Erneuerbare setzen und wir müssen unbedingt den Energieverbrauch senken.