Blumen im Leben kann jeder brauchen. Und sei es als Muster auf der Innenseite der Jacke. Die Nähmaschine rattert los und verbindet das bunte Futter mit dem dezenten graugrünen Außenstoff. Zufrieden blickt der Mann hinter der Nähmaschine in der Sozialwerkstatt im niederländischen Enschede in die Videokamera, die seine Arbeit für die gemeinnützige Organisation „Shelter Suit“ dokumentiert. Gemeinsam schneidern hier ehemalige Obdachlose wärmende Schutzkleidung für andere Menschen ohne Dach über dem Kopf.
Seit 2014 verkauft die Organisation die Anzüge innerhalb der Niederlande, aber auch in die USA, nach Großbritannien - und mittlerweile auch nach Deutschland, etwa ins oberbayerische Rosenheim. Die Diakonie betreut dort rund 150 Menschen in den diversen Angeboten der Wohnungslosenhilfe. „Aber es gibt auch welche, die das nicht wünschen“, sagt Klaus Voss von der Diakonie Rosenheim. Und für sie sei der Shelter Suit gedacht.
Die Schutzanzüge sind sehr robust
Es handelt sich um einen Schutzanzug, der sich in Anorak und Fußsack teilen lässt. So kann die Jacke tagsüber getragen werden, während der Fußsack als Schlafsack eingerollt wird. Zusammengesetzt bildet die Kombination einen „Schutzraum, der Wärme gibt“, beschreibt Voss. Außerdem seien es „super Materialien, robust und auch mit modernem Design“. Hergestellt werden die Anzüge aus gespendeten Schlafsäcken oder Decken.
Wie sich so ein Anzug von innen anfühlt, wollte auch der Diakoniebeauftragte des Dekanats Rosenheim, Edzard Everts, am eigenen Leib spüren. Also packte der Ebersberger Pfarrer den Shelter Suit im Gottesdienst aus, um seiner Gemeinde das Thema Obdachlosigkeit nahezubringen und schlüpfte auch probehalber selbst hinein. Sein Resümee: „Er wärmt ganz hervorragend und gibt ein gutes Gefühl des Geschütztseins.“
Der Anzug lässt sich nicht so leicht entwenden
So ein Gefühl hätte auch sie gerne: In einem gut situierten Viertel Münchens sitzt eine magere Frau mit schwarzen Haaren auf dem Gehweg, die Menschen eilen mit prall gefüllten Einkaufstaschen an ihr vorbei. „Hast du eine Decke für mich, und einen Rucksack?“, fragt sie. Letzte Nacht sei ihr alles geklaut worden, was sie nicht am Leib getragen habe. Nun sorge sie sich um die brutale Kälte. Zwei Frauen lassen sich berühren, versprechen Hilfe. Wenig später hat die Obdachlose zumindest wieder zwei Decken.
Eine Garantie gegen einen solchen Diebstahl sei der Shelter Suit natürlich nicht, sagt Voss: „Eigentumsschutz ist auf der Straße immer ein Thema.“ Womöglich lasse sich der Anzug aber schwerer entwenden, gerade wenn er getragen werde.
Ein Anzug kostet 300€, ist für Bedürftige aber kostenlos
Entscheidend sei, dass die Suits kein Ersatz dafür seien, Menschen mit einem Dach über dem Kopf zu versorgen, betont der Diakonie-Mann. Aber sie seien eine gute Möglichkeit zur Akutversorgung, die kurzfristig Wärme und Schutz gebe. Mithilfe von Stiftungsmitteln und Kooperationen hat die Diakonie Rosenheim bisher 15 solcher Notfall-Anzüge gekauft, einer kostet etwa 300 Euro. Die Obdachlosen müssen natürlich nichts dafür bezahlen.
So entstand die Geschäftsidee
Im Freistaat gibt es laut Diakonie Bayern mindestens 16.000 obdachlose Menschen. Bundesweit gab es laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im Jahr 2020 etwa 256.000 erwachsene wohnungslose Menschen in Deutschland; 45.000 davon lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße.
Entstanden ist die Idee zu den Schutzanzügen, so die Firmengeschichte von Shelter Suit, als der Vater eines Freundes von Gründer Bas Timmer starb, weil er draußen schlafen musste und dort erfror. Eigentlich hatte Timmer nach dem Besuch einer Modeakademie gerade seine eigene Outdoor-Modelinie gegründet. „Aber es fühlte sich für ihn nicht richtig an, modische Kleidung zu einem hohen Preis zu verkaufen, während sich viele nicht einmal warme und schützende Kleidung leisten konnten, um zu überleben“, beschreibt die gemeinnützige Organisation.
Es gibt auch Vorbehalte gegen die Shelter-Suits
Auch außerhalb von Rosenheim werden die Anzüge vereinzelt verteilt. So übergab ein deutsches Shopping-Center-Unternehmen nach einer Spendenaktion kürzlich 20 Schutzanzüge an die Münchner Bahnhofsmission und die Caritas. In den Einrichtungen der Diakonie München und Oberbayern kennen die Mitarbeitenden das Konzept zwar und haben es ausprobiert. „Aber keine der Einrichtungen verteilt es derzeit“, sagt Sprecherin Christine Richter.
Auch beim Landesverband der Diakonie in Bremen gebe es aktuell eine Spende von drei Shelter Suits, sagt Wohnungslosen-Experte Lars Schäfer von der Diakonie Deutschland. Sie sollen zeitnah ausgegeben und erprobt werden. Grundsätzlich habe man dort aber ein paar Vorbehalte gegen die Anzüge, sagt Schäfer: Schlafsäcke und Jacken seien günstiger und handlicher.
Hauptproblem bleibt die Obdachlosigkeit
Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch die Diakonie in Hessen: Dort sei im Rahmen der Winterkampagne über die Suits diskutiert worden, sie seien jedoch für umständlich, zu groß und zu teuer befunden worden. Bisher hätten nur zwei Einrichtungen sie angeschafft.
Bei der Diakonie Bayern hat man ebenfalls von den Anzügen gehört, setzt sie aber bisher nicht ein. Sprecher Wagner fasst zusammen: „Es ist traurig, dass es das gibt und es ist zugleich gut, dass die Macher das anbieten.“ Einig sind sich alle darin, dass das Produkt nicht vom grundsätzlichen Problem ablenken darf: dem fehlenden Wohnraum für Wohnungslose.