Erst mit etwas mehr Abstand, erst wenn die nächste Skandal-Sau durchs mediale und politische Dorf getrieben worden ist, wird man ermessen können, was sich aus dem Fall des Hubert Aiwanger lernen lässt.

Einiges lässt sich aber jetzt schon skizzieren. Auffällig war zum Beispiel, wie viele aus politischem Kalkül und Lagerdenken heraus die antisemitischen Abgründe, die sich bei "einem der ihren" auftaten, doch nicht ganz so schlimm fanden. Ebenso auffällig war, wie – ebenfalls aus politischem Kalkül und Lagerdenken – andere diese Abgründe einsetzten, die zum Beispiel regelmäßig keinerlei Problem mit israelbezogenem Antisemitismus haben.

Antisemiten sind immer die anderen

Offenkundig war und ist es mit der vermeintlich so vorbildlichen Aufarbeitung der deutschen Geschichte weniger weit her, als viele glauben wollen.

Die Aiwanger-Story mit ihren vielen Facetten rund um die Atmosphäre und das Lebensgefühl der 80er-Jahre wirft ein Licht darauf, dass die meisten Familien in Deutschland sich der Täter-, Mitmacher- und Schuldgeschichte ihrer Eltern, Großeltern und Vorfahren auch seither nie wirklich gestellt haben. Dass man es sich bequem eingerichtet hat in der Erinnerungskultur der Gedenkstätten und der Sonntagsreden. 

Antisemiten sind immer die anderen. Je nach eigener Verortung kommt der Antisemitismus vor allem von rechts oder von links, von den zugewanderten Muslimen, von den die europäische Kultur prägenden Christen. Das Schlimme ist: Irgendwie haben alle recht.

Wie gehe ich mit Jugendsünden als Erwachsener um?

Am verstörendsten ist und bleibt daher die von Hubert Aiwanger im Umgang mit der Affäre demonstrierte, sehr deutsche "Unfähigkeit zu trauern".

Mit einem Machwerk wie dem Aiwanger-Flugblatt erwischt zu werden (selbst wenn es vom Bruder stammen sollte) und vor dem Schuldirektor zu stehen – wie kann man sich da darauf herausreden, sich nicht mehr so genau erinnern zu können? An Schlimmes aus Kindheit und Jugend, an Dinge, die sie umgetrieben haben, können sich Menschen noch bis ins hohe Alter bis in kleinste Details erinnern, bunt und in Farbe.

Fast jeder macht in der Jugend Fehler. Die entscheidende Frage ist, wie man mit diesen Fehlern als Erwachsener umgeht. Die Flugblatt-Affäre hat die Frage aufgeworfen, wer Hubert Aiwanger heute ist. Mit seiner schmallippigen, formelhaften Reaktion, die er nicht nur auf den Fragenkatalog des Ministerpräsidenten zeigte, hat Hubert Aiwanger diese Antwort gegeben. Sie bestätigt leider den schlimmen Verdacht, den Fotos aus der Zeit und Zeugenberichte von damaligen Schulkameraden nahelegen. 

"Unfähigkeit zu trauern" bedeutet auch: Schuld erneuert sich in der Verweigerung von Einsicht und von Reue.

 

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