Am letzten Augustmontag wurde er vom FC Bayern München offiziell vorgestellt: Der israelische Torwart Daniel Peretz wechselt von Tel Aviv an die Isar. Er ist der erste israelische Spieler beim deutschen Rekordmeister, dessen Geschichte auch Juden entscheidend geprägt haben: Unter Kurt Landauer (1884-1961), der von 1913 bis 1914, von 1919 bis 1933 und nach dem Holocaust noch einmal von 1947 bis 1951 Präsident des Vereins war, wurden die Bayern 1932 erstmals deutscher Meister – unter dem jüdischen Trainer Richard "Little Dombi" Kohn (1888-1963).

In Israel ist nicht nur der große Fanclub "Bayern Israel" (באיירן ישראל) stolz auf den Israeli an der Isar. "Unsere Großmutter ist eine Deutsche", erklärte Daniel Peretz’ jüngere Schwester in einem Interview, warum der neue Bayern-Torwart neben dem israelischen auch einen deutschen Pass besitzt. Mit Bayerns Torwart Manuel Neuer ist auch sie groß geworden: "Er war für Daniel immer mehr als nur ein Torwart, seit ich mich erinnern kann, war er eine Inspiration für ihn."

Gematrie und Glückszahl

Laut eigener Aussage haben die Bayern eine Ablöse in Höhe von fünf Millionen Euro an Peretz’ bisherigen Club Maccabi Tel Aviv überwiesen. Bayerns neuer Goalie soll von seinem großen Vorbild Manuel Neuer (37) und Bayerns langjähriger Nummer zwei im Tor, Sven Ulreich (35), lernen. Der langzeitverletzte Neuer ist gerade erst wieder ins Training eingestiegen. Deutlich jünger als die beiden Platzhirsche gilt der 23-jährige Israeli als Investition in die Zukunft.

Im Juli gelang Daniel Peretz mit der israelischen Auswahl der überraschende Einzug ins Halbfinale der U21-Europameisterschaft. Zwei gehaltene Elfmeter im Spiel gegen die deutsche Mannschaft brachten ihn auch hierzulande auf den Zettel der Fußballexperten. Zu seiner schon großen Popularität in Israel hat beigetragen, dass er mit der Sängerin Noa Kirel liiert ist. Kirel hat beim letzten Eurovision Song Contest mit ihrem Song "Unicorn" (Platz 3) international auf sich aufmerksam gemacht.

"Ich bin Bayern-Fan seit meiner Kindheit", bekannte Peretz auch bei seiner Vorstellung vor der Presse. Als Trikotnummer hat sich der israelische Bayern-Torwart die 18 ausgesucht. Die haben beim FC Bayern schon Spieler wie die Stürmer Jürgen Klinsmann (1995-97) und Miroslav Klose (2007-11) getragen oder zuletzt die Mittelfeld-Asse Leon Goretzka (2018-21) und Marcel Sabitzer (2021-23). Auf dem Trikot der deutschen Nationalmannschaft war die 18 die Rückennummer von Real-Madrid-Star Toni Kroos, als er 2014 mit Deutschland Weltmeister wurde.

18 steht für das Leben

Aber nicht Fußballgeschichte, sondern jüdische Traditionen haben Daniel Peretz bei der Wahl seiner Rückennummer motiviert, wie sich durch die Nachfrage eines israelischen Journalisten herausstellte. "Die 18 ist eine sehr beliebte Zahl in Israel", sagte Peretz, "sie steht für das Leben, deshalb habe ich sie gewählt."

Dahinter verbirgt sich etwas, das auch mit der jüdischen Kabbalistik zu tun hat: Hebräische Buchstaben können für Zahlwerte stehen. Der erste Buchstabe Aleph (א) für die 1, der zweite, Beth (ב), für die 2, der dritte, Gimel (ג), steht für die 3 und so weiter. Die hohen Eingangstüren der neuen Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob (Zelt Jakobs) sind mit den ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets geschmückt. Sie stehen damit auch für die Zahlen 1 bis 10 und symbolisieren so die Gesetzestafeln, die Moses am Sinai erhielt: die Zehn Gebote.

Jedes Wort der hebräischen Bibel kann also auch als eine Gruppe von Zahlzeichen gelesen oder als Summe angegeben werden. Die Praxis, Wörter auf diese Weise zu "berechnen" und dadurch zu versuchen, Sinnbeziehungen herzustellen, heißt Gematrie. Das hebräische Wort für Leben ist "Chaj", es besteht aus den Buchstaben Chet (ח)(=8) und Jod (י)(=10), die zusammen achtzehn ergeben. Deswegen gilt das Wort Chaj (חַי) auch als Glückszahl. Bei Geldspenden zu jüdischen Hochzeiten werden gern durch 18 teilbare Beträge gegeben, in Israel sind Halsketten mit einem "Chaj"-Anhänger oder der Zahl 18 beliebt.

Zahl hat im Judentum weitere Bedeutungen

Doch die 18 hat im Judentum eine noch weiter reichende Bedeutung. "Schmoneh esreh" ("acht zehn") heißt eines der wichtigsten jüdischen Gebete. Es ist gewissermaßen das Gebet schlechthin und heißt deswegen oft einfach nur "Tefillah" (Gebet). Im sefardischen Judentum ist es als "Amidah" (stehend) bekannt, weil es im Stehen und mit geschlossenen Beinen zu rezitieren ist. Gebetet wird es bei den drei täglichen Gottesdiensten, morgens, mittags und abends.

Wie alt es genau ist, weiß man nicht. Kurios ist, dass das Achtzehnbittengebet aus 19 Teilen (Berachot) besteht. Es ist in drei Abschnitte gegliedert: Am Anfang stehen drei Berachot des Lobens (1.-3. Beracha), gefolgt von dreizehn Bitten – um Weisheit, Umkehr, Vergebung, Heilung, Gerechtigkeit. Den Schluss bilden drei Berachot des Dankens (17.-19. Beracha).

Der evangelische Neutestamentler Martin Hengel (1926-2009) und andere Bibelwissenschaftler haben eine Passage im zweiten Korintherbrief des Paulus als eine christliche Umarbeitung des ersten Lobs, des "Awot" (Väter) identifiziert: "Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott …", heißt es dort. (2. Korinther 1, 3-7)

Wann genau und warum aus den ursprünglich 18 Berachot des Gebets 19 wurden, ist umstritten. Eine alte Textfassung aus Kairo legt nahe, dass nach der Zerstörung des Tempels die 14. Beracha mit der Bitte um den Wiederaufbau Jerusalems (Binjan Jeruschalajim) hinzugefügt wurde. Der Babylonische Talmud dagegen berichtet, Rabban Gamaliel II., Enkel des in der Apostelgeschichte erwähnten Gamaliel, habe Anfang des zweiten Jahrhunderts die 12. Beracha, einen Fluch gegen die Häretiker (Birkat ha-Minim), eingefügt.

Die Birkat ha-Minim ist berüchtigt, nicht zuletzt für das christlich-jüdische Verhältnis. Dieser variantenreiche Teil der Amidah war in der Geschichte so etwas wie ein Barometer der jüdisch-christlichen Beziehungen.

Ein Segen als Fluch über die Christen?

Wörtlich bedeutet Birkat ha-Minim so viel wie "Segen der Arten", doch dahinter verbirgt sich kein Segenswunsch. Eine der ältesten Versionen stammt aus Kairo, aus einer sogenannten Genisa, einem "Friedhof" für ausrangierte Torarollen und andere heilige Schriften. Sie ist aus dem 9. oder 10. Jahrhundert und hat es in sich:

"Für die Abtrünnigen (meschumaddim) möge es keine Hoffnung geben und das Reich der Hochmut (malchut zadon) vernichtet werden, schnell und in unseren Tagen. Mögen die Nazarener (ha-naẓarim/nozrim = Christen) und die Sektierer (minim; auch: Ketzer) in einem Augenblick zugrunde gehen. Mögen sie aus dem Buch des Lebens ausgelöscht werden und nicht zusammen mit den Gerechten geschrieben werden. Gepriesen seist Du, HERR, der die Hochmütigen unterwirft."

Schon Kirchenvater Hieronymus (um 348/349-420) war sich in seinem Jesaja-Kommentar sicher, die Juden verfluchten alle Christen dreimal täglich. Doch der Text aus Kairo stammt nicht aus einem christlichen, sondern aus einem muslimischen Umfeld. Und mit den Nazarenern und "Minim" waren ursprünglich vermutlich nur Judenchristen und andere Abweichler vom pharisäisch-rabbinischen Mainstream gemeint.

Jüdisch-christlicher Gegensatz

Dennoch, man darf den jüdisch-christlichen Gegensatz nicht kleinreden: So wie die frühe Christenheit die Zerstörung des Jerusalemer Tempels als Strafe für die "verstockten" Juden interpretierte, die Jesus nicht als Christus/Messias annahmen, waren für das rabbinische Judentum die Christen (jedenfalls die Judenchristen) mitschuldig an der Katastrophe, indem sie vom Tempeljudentum abgefallen und einem falschen Messias gefolgt waren.

Doch die Rabbiner waren sich über Sinn und Zweck der Birkat ha-Minim niemals einig. Die Formulierungen waren über die Jahrhunderte hinweg höchst unbeständig. Ausgerechnet wachsende Hebräischkenntnisse bei den Gelehrten auf christlicher Seite befeuerten ab dem Hochmittelalter Misstrauen und Verschwörungstheorien. Jüdische Konvertiten wie Nikolas Donin beim Pariser Talmudprozess von 1240 oder in Deutschland der Bücherjäger Johannes Pfefferkorn (1469-1521) spielten dabei eine abgründige Rolle.

Aus dem Zusammenhang gerissene übersetzte Zitate aus dem Talmud machten in ähnlicher Weise Stimmung, wie dies heute für manche willkürlich aus dem Kontext gegriffene Koranverse gilt. Das Gerücht von den heimlich und verschlagen die Christenheit verfluchenden Juden fiel auf den fruchtbaren Boden des christlichen Judenhasses. Es vermengte sich mit anderen judenfeindlichen Legenden wie der vom Ritualmord an Kindern oder des Hostienfrevels und entlud sich in blutigen Pogromen.

Unterschiedlichste Formulierungen

Auch die christliche Zensur griff in die Formulierungen des Gebets ein. Wieder andere Änderungen geschahen aus Rücksicht gegenüber Juden, die zur Konversion zum Christentum gezwungen wurden. Gegen wen oder was sich der Fluch gegen die "Minim" richtete, darüber schwankten die Meinungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten erheblich. Im christlichen Nordeuropa, vor allem in der Zeit der hochmittelalterlichen Pogrome, herrschte unter den Rabbinern allerdings weitgehende Einigkeit darüber, dass die Birkat ha-Minim tatsächlich mit Blick auf die Christen formuliert worden war und sich auch weiterhin gegen sie richtete. In Italien und den muslimischen Ländern war die Sache weitaus komplexer.

Heutige Formulierungen der Birkat ha-Minim haben einen ganz anderen Klang:

"Mögen diejenigen, die Böses planen, keine Hoffnnung auf Erfolg haben", heißt es beispielsweise im progressiv-reformjüdischen Gebetbuch "Lew Chadasch" (Neues Herz), "mögen alle, die in die Irre gehen, den Weg zurück zu Dir finden; und lass alle Tyrannei bald enden. Wir preisen Dich, o Gott, dessen Wille ist, dass das Böse von der Erde verschwindet."

Juden, die nur am Schabbat in die Synagoge gehen, hören das Birkat ha-Minim – gleich welcher Formulierung – allerdings selten. Denn es wird wie der gesamte Mittelteil des Gebets nur an den sechs anderen Tagen, nicht aber an Feiertagen rezitiert.

Ob Bayerns israelischer Torwart Daniel Peretz sich für die hier nur ansatzweise ausgebreiteten historischen Verästelungen rund um das Achtzehnbittengebet interessiert, ist nicht bekannt. Fest steht aber: Für viele Juden klingt bei der Zahl 18 eine ganze Menge mit. Geradezu grotesk ist, dass die 18 auch in rechtsextremen Kreisen eine symbolische Bedeutung hat. Sie gilt dort als Code für Adolf Hitler. Die Anfangsbuchstaben seines Namens sind der erste und der achte Buchstabe des Alphabets. Die meisten Nazis wissen vermutlich nichts von der jüdischen Bedeutung der 18.

Landauer hätte es gefallen

Bis der FC Bayern seine jüdische Geschichte wahr- und annahm, hat es etwas gedauert. Es brauchte dafür das beharrliche Engagement von Fangruppen wie den linken Südkurvenfans der "Schickeria". Sie richteten seit 2006 ein nach Kurt Landauer benanntes Fußballturnier aus und haben die Erforschung der Vereinsgeschichte wesentlich vorangetrieben. Inzwischen sind die Bayern stolz auf diesen Teil ihrer Geschichte. Der Platz vor der Fröttmaninger Arena ist heute nach dem jüdischen Vereinspräsidenten benannt, der 1947 nach München zurückkehrte, um seinen geliebten FC Bayern wieder aufzubauen.

Verschwiegen werden darf aber nicht, dass auch beim zuvor als "Juden-Klub" diffamierten FC Bayern nach 1933 das "Mitmachen" die Regel war. Jüdische Mitglieder wurden aus dem Verein geworfen, und mit Josef Kellner stand von 1938 bis 1943 ein glühender Nationalsozialist als Präsident an der Spitze des Vereins. Als die Bayern 1965 in die Bundesliga aufstiegen und bald darauf mit Beckenbauer, Maier, Müller, Breitner, Hoeneß erstmals Europa eroberten, war der Vereinspräsident Wilhelm Neudecker (1913-1993) – ein ehemaliges SS-Mitglied.

"Dies ist das erste Mal, dass ein Spieler aus Israel in unseren Reihen ist", sagte Bayerns Vorstandschef Jan-Christian Dreesen bei der Pressekonferenz und betonte: "Das ist vor dem Hintergrund unserer auch jüdischen Clubgeschichte natürlich etwas Besonderes. Andererseits ist für uns als weltoffener Club die Herkunft egal. Für uns geht es um eins: Wir wollen möglichst guten Fußball spielen."

Dreesens jüdischem Vorgänger Kurt Landauer, der schon vor 100 Jahren ganz ähnlich dachte, hätte das gefallen.

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