O! Schön, dass Sie hier sind. AZusammen mit mir und hoffentlich begleitet von Gott für eine halbe Stunde am Heiligen Abend. Und so ähnlich vielleicht unsere Erwartungen und Hoffnungen heute sind: Oft birgt dieser Abend sehr unterschiedliche Erfahrungen: Die ältere Dame, die vor zwei Wochen ihren Mann verloren hat und nun ohne ihn Weihnachten feiert, fühlt sich anders als die Familien mit vielen Kindern, die kribbelig auf die Bescherung warten. Verbindet uns trotzdem alle etwas? Eine gemeinsame Antwort auf den Heiligabend?

Ich bin auf ein kleines Wort gestoßen, das bestimmt nicht die einzige, aber eine besondere Antwort auf den Heiligabend ist. Es ist das kürzeste deutsche Wort überhaupt. Wort ist womöglich fast zu viel gesagt. Eigentlich ist es wohl eher ein Ausruf, in dem sich ganz viele sehr unterschiedliche Gefühle ausdrücken. Und darum passt es womöglich heute so gut zur Heiligen Nacht. Ich meine das winzige Wörtchen: O! Vor allem in Liedern singen wir ständig "O!": Herbei, o Ihr Gläubigen, O Jesu setze mir selbst die Fackel bei, O du fröhliche, o du selige… O, o, o! Und das, obwohl es in unserem normalen Leben in der deutschen Sprache der seltenste Vokal ist. A, E, I, U sind viel häufiger.

Bei der Geburt Jesu ist unser Leben auf einmal voll von "O!"

Das hilflose, traurige "Oh…"

In den meisten Liedern ist das O eine Anrede: O Jesulein". Aber auch dieses O kann unterschiedlich klingen. "O Jesulein zart, wie liegst du so hart…": Für mich hört sich das an nach "O nein" oder nach "O je".

Das kommt nicht von ungefähr: Psychologen haben herausgefunden, dass das O in unserer Sprache oft eher mit Ernstem und Traurigem verbunden sei. Ganz anders als beim "I" zum Beispiel, das für uns Deutsche hell und fröhlich klinge. Die Forscher sagen: Das läge schon allein daran, dass ich, wenn mein Mund ein O formt, nicht lachen könne. Können Sie ja mal ausprobieren… 
Und so ist es kaum verwunderlich, dass wir auch Oh sagen, wenn wir bedauern oder voller Mitleid sind. Vielleicht ist das "O" zum Heiligen Abend 2022 eher so ein trauriges Oh…? Trifft das womöglich in diesem Jahr besonders unsere Gefühle?

Natürlich: Es war noch nie so, dass zum Weihnachtsfest mal überall Friede geherrscht hat, aber in diesem Jahr scheint es irgendwie doppelt furchtbar mit Kriegen, Gewalt, mit Umsturzirrsinn. Heute Abend werden viel zu viele Menschen keine ruhige, besinnliche oder gar frohe Heilige Nacht feiern. Die auf der Flucht, die in den dunklen und kalten ukrainischen Kellern während der Bombenangriffe, und auch viele hier in den ärmeren Ecken in den Städten, wo Geld und Hoffnung immer weniger reichen, wo der Frust immer größer wird. 

Wie kann ich erzählen von Frieden auf Erden und fröhlichen Weihnachten? Stattdessen denke ich: Oh… O Jesulein zart, die Krippe ist hart. Warum bescheren wir dir Jahr für Jahr so einen kläglichen Empfang hier auf Erden? 

Was kann ich da machen, wenn mir im Moment die Worte fehlen? Andere zur Hilfe nehmen. Ich darf mich festhalten an den alten Worten der Bibel, die so fest mit diesem Abend verbunden sind: 

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. (Lk 2,1-20)

Das staunende "O!"

Zugegeben: In der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium kommt kein einziges O! vor. Aber ich höre es zwischen den Zeilen.… erst das bedauernde Oh…, weil Maria und Josef auf ihrer beschwerlichen Reise nur auf verschlossene Türen stoßen. Vielleicht das schmerzerfüllte O, das Maria unter den Wehen herausbringt, wie so viele Frauen bei der Geburt. Und dann vor allem… Staunen. 

Wie staunt es sich schöner als mit dem O: Oh, was ist denn das? Oh, wo kommst du denn her? Ein Engel am Himmel? Über den Hirten, über denen mit Frust und ohne besondere Hoffnung für ihr Leben. Als wäre es damit noch nicht genug, fliegen die ganzen himmlischen Heerscharen herbei. Ein Flirren und Singen und Glitzern.

 Vermutlich können die Hirten das mit dem Staunen darum besonders gut, weil sie wohl so gar nicht mit dieser besonderen glitzernden Ehre gerechnet haben, die ihnen auf der Weide am Ende der Welt zuteilwird. Und so stelle ich es mir vor: Die Hirten mit weit ungläubig geöffneten Augen und staunendem Mund: Oooh! Oben am Himmel: Die Engelsschar mit herrlichem Gesang. Was sie singen? Na, Gloria natürlich. Mit langem, wunderbarem O! 

Können Sie das noch: Staunen? Heute am Heiligen Abend lässt es sich zumindest gut wiederauffrischen. Weit geöffnete Augen, staunender Mund: Oooh!

Solche Momente bräuchten wir häufiger in unserem Leben. Staunen über das Gute, das es allen Katastrophen zum Trotz immer wieder gibt. Wenn wir wie die Hirten für die Zukunft nichts erwarten. Dann Staunen dürfen. Nein, mit einiger Wahrscheinlichkeit tauchen nicht immer Heerscharen am Himmel auf. Aber ich wette, dass auch Sie und ich noch ziemliches Potenzial zum Staunen haben:

 Zum Beispiel, wenn mal, wie vergangene Woche, so eine ganz komplette wunderschöne Schneeflocke auf mir landet mit diesem winzigen perfekten geometrischen Muster.

Oder: Bei einem Trauergespräch habe ich kürzlich das schöne Wort "Erdenengel" kennengelernt. Weil die Familie diese Erfahrung gemacht hat, als die Oma viel Hilfe gebraucht hat. Erdenengel gibt es nämlich zuhauf. Die flattern nicht am Himmel. Sie unterstützen uns auf einmal unerwartet. So wie eine Freundin bei mir vor einigen Wochen, plötzlich mit einer Suppe vor der Tür stand, weil ich krank war... Oh!, das ist aber lieb von dir! 

Bei Neugeborenen geht es mir auch jedes Mal wieder so. Egal, wie furchtbar die Nachrichten an dem Morgen waren, wieviel Wut oder Trauer ich schon in mir hatte an dem Tag. Beim Blick auf solche kleinen Kinder fällt das ab. Der Blick richtet sich allein auf dieses Wunder. Das ist Teil dieses Staunens am Heiligen Abend: Immer wieder, jedes Jahr dieses neue Leben, das meinen Blick auf sich zieht: Gott lässt einfach nicht locker. Nach dem Staunen über die Engel kommen die Hirten an die Krippe und staunen mit den Eltern um die Wette über dieses ganz besondere Kind: Augen weit geöffnet, Mund auch: Ohhh, wie lacht Gottes Liebe aus deinem göttlichen Mund…

Das ehrfürchtige "O…"

 In den meisten Liedern werden mit dem "O" aber Menschen angeredet und noch mal besonders aufgefordert: Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all! "O" a bei einer ehrfürchtigen Anrede, bei Königen und Herrschern macht die angeredeten Menschen noch gewichtiger, hebt sie hervor. Die sind bedeutsam! Und zugleich spüre ich, wie ich mich damit selbst in eine bestimmte Beziehung zu diesen Menschen setze: Gefühlt schaue ich auf.

In der kirchlichen Tradition gibt es diese ehrenvolle Anrede übrigens in der letzten Adventswoche täglich. Jeden Tag gibt es einen Vers aus dem Alten Testament, der den ersehnten Messias, den Retter der Welt, preist und rühmt und sehnlichst erwartet. Jeden Tag ein Wechselgesang, der mit einem O beginnt. Die O-Antiphonen:

"O Weisheit , … o komm und offenbare uns den Weg der Weisheit und Einsicht."
"O Adonai, …o komm und befreie uns mit deinem starken Arm!"
"O Spross aus Isais Wurzel, …o komm und errette uns."
"O Schlüssel Davids,… o komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes!"
"O Morgenstern, … o komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes!"
"O König aller Völker,…o komm und errette den Menschen."

Ganz klar: Da wird jemand ganz Besonderes erwartet. Stark, mächtig, übermenschlich. 
Nur, dass dann plötzlich alles ganz anders kommt.

Auf einmal schauen wir gar nicht auf zu einem mächtigen Herrscher, sondern herunter. Wer hätte denn ahnen können, dass der König, der Morgenstern, die Weisheit nicht weit über uns thronen soll, sondern auf Bauchnabelhöhe in einer Futterkrippe strampelt? So niedrig, dass alle niederknien müssen, um zumindest mal auf Augenhöhe zu kommen. Ein ehrfürchtiges O für ein winziges Baby: Normal war und ist das nicht. Aber genau dafür braucht es diese Geschichte eben auch Jahr für Jahr. Immer wieder müssen wir daran erinnert werden: Auf Gottes Augenhöhe sind wir dann, wenn wir uns zu denen ohne Macht und ohne Reichtum begeben. Wenn wir mit Ehrfurcht und Respekt auf die Kinder und Jugendlichen schauen. Und wenn wir uns zu denen setzen, deren Leben ähnlich hart ist wie die Futterkrippe für ein Neugeborenes.

Da treffen sie sich also, die ganz verschiedenen O`s: Das mitleidende, traurige O über den mäßigen Empfang für Jesus, das ehrfürchtig anrufende "Komm, o mein Heiland, Jesu Christ, mein‘s Herzens Tür dir offen ist" und das überrascht staunende "O! Seht in der Krippe im nächtlichen Stall das himmlische Kind, viel schöner und holder, als Engel es sind!

Das fröhliche "Oooohh!"

 Wer sollt sich nicht freuen? Das Lied endet mit dem Jubel. Mitleid, Ehrfurcht, Überraschung – am Ende verwandelt sich all das langsam in das freudige Oooh! 

Ich hab es übrigens ausprobiert: Man kann doch beim O lachen… Vielleicht nicht mit dem Mund, so wie die Forscher das gesagt haben. Aber durch die Augen auf jeden Fall. Versuchen Sie es einmal.

Damit kommen wir zum letzten O. Das ist eins, das ich als Kind lange nicht so richtig verstanden habe und dass mir immer wie eine Geheimsprache vorkam. Beim Weihnachtssingen meiner Grundschule haben wir es häufig gesungen in dem Lied "In dulci jubilo – nun singet und seid froh". Denn da hieß es an einer Stelle – die wir stolz in der fremden Sprache gesungen haben: Alpha est et O, Alpha est et O….

 Jesus ist das A und O, hat uns der Direktor und Chorleiter erklärt. Das habe ich schon mal so halb verstanden: Wenn etwas das A und O ist, dann kommt man daran nicht vorbei und braucht es unbedingt. Dass die Buchstaben Alpha und Omega zum griechischen Alphabet gehören, wusste ich da noch nicht. Auch nicht, dass das Omega, das große O, nicht mitten im Alphabet vorkommt, sondern der letzte Buchstabe ist. Das habe ich erst später gelernt. Ein schönes Bild: Jesus als Anfang und Ende, alles umspannend, was sich sonst im Leben so abspielt an Traurigkeiten und Bedauern und den hellen, frohen Zeiten. All das umfängt Jesus von den ersten Minuten im Stall an: Pieksendes Stroh und singende Engel. Die Kälte der Nacht und die Wärme der Eltern. Pupsende Kühe und ein göttlicher Stern am Himmel. Diesem Retter wird nichts fremd sein. Alpha est et O. So einem kann ich mich anvertrauen, gerade weil er so geboren wird.

Das ist der Grund, warum wir diesen Heiligen Abend begehen. Wir müssen heute nicht so tun, als wäre alles wunderbar und perfekt. Wir müssen uns selbst und uns wechselseitig nicht vormachen, dass wir alle glücklich sind. Es darf das traurige und das mitleidende Ohh… geben, weil ich gerade auch eher die Kälte und Härte erlebe. Es darf das Staunen geben, das ich mir wieder etwas von den Kindern abschauen muss. Ich will mich überraschen lassen von kleinen Dingen, Suppenerdenengeln, oder vielleicht eben doch auch mal von großen guten Nachrichten. Ich gebe nämlich die Hoffnung nicht auf, dass es auch einmal wieder großes Staunen geben kann in jedem Leben und in den Tagesthemen. So wie ja auch in Bethlehem erst alle dachten: Ah, nur kleines Baby. Und dann … Überraschung! war es der Retter der Welt! Gott hat vorgemacht, was wir nachmachen können.

Ja, und es darf das fröhliche Oooh! als Antwort auf diesen Heiligen Abend geben. Wenn das Staunen eine kleine Lücke zu meinem Herzen gebohrt hat und die Freude sich hineinzwängt. Weil ich mich auf einmal angesprochen fühle als eins der Kinderlein, die kommen sollen, um einzustimmen in den Jubel – in der Kirchenbank, auf dem Sofa, hier vor dem Radio. Ein freudiges Oooh über die vielen Spenden, die heute Abend zusammenkommen werden für Brot für die Welt und die Katastrophenhilfe der Diakonie und was auch immer. Weil doch noch so vielen klar ist, was wir tun müssen, um Gott auf Augenhöhe begegnen. 
Und ich freu mich über alle Lieder, besonders über die mit meiner Lieblingsantwort auf Gottes Ankunft bei mir und Ihnen und in unserer ganzen Welt: O!