Die Heilige Schrift ist in ihrer Hauptaussage klar und für jeden, der sie liest, verständlich und einsichtig. Die Heilige Schrift legt sich selbst aus (Sacra scriptura sui ipsius interpres), sie bedarf dazu nicht eines ihr übergeordneten Lehramts, etwa des Papstes. "Also ist die Schrift ihr selbst ein eigen Licht. Das ist dann fein, wenn sich die Schrift selbst auslegt". Das richtet sich gegen die Einwände der römisch-katholischen Kirche, die Schrift sei schwierig, nicht eindeutig und bedürfe daher der Auslegung durch das Lehramt des Papstes. Luther räumt ein, dass es in der Bibel schwierige Stellen gibt. Aber die Hauptsache, das Evangelium von Jesus Christus ist für jeden Menschen verständlich.
Christus - Die Mitte der Schrift
Luthers Treue gegenüber der Heiligen Schrift führte nicht zu einem Buchstabenglauben. Er machte aus der Bibel keinen "papiernen Papst", wie ihm seine Kritiker gerne vorwarfen. Dazu kannte er die Bibel zu genau und hatte ein viel zu lebendiges Verhältnis zu ihr. Luther versteht das vielmehr so, "dass die Schrift sich von Christus als ihrer Mitte her auslegt, also christozentrisch". Luther las die Bibel nicht als Gesetzbuch, sondern als viva vox Evangelii, als das lebendige Zeugnis, die gute Nachricht von der Erlösung durch Jesus Christus. Die Schrift zeugt von Christus, darum muss sie von ihm her verstanden und ausgelegt werden.
Christus ist die Mitte der Schrift, um ihn geht es, um seinetwillen lesen wir die Schrift, an ihn - nicht an die Schrift selbst - glauben wir. In diesem Sinn schreibt Luther: "Was Christum nicht lehret, das ist noch nicht apostolisch, wenns gleich S. Petrus oder Paulus lehret. Wiederum was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes tät." Ja, Luther kann gegen seine Widersacher, die Christus von der Schrift her eingrenzen wollen, so weit gehen zu sagen: "Christus ist Herr, nicht Knecht, Herr des Sabbaths, des Gesetzes und aller Dinge. Und die Schrift ist nicht gegen Christus, sondern für ihn zu verstehen. Daher muss man die Schriftstelle entweder auf ihn beziehen oder kann sie nicht für wahre Schrift halten."
Die Rechtfertigungslehre bezeichnet Luther als die eigentliche Mitte der Schrift. In diesem Sinne fasst er die Heilige Schrift zusammen: Sie handelt von dem verlorenen und verdammten Menschen und von dem rettenden und rechtfertigenden Gott. Daraufhin und davon her ist alles in ihr auszulegen und zu verstehen. Das ist die Mitte der Schrift.
Gesetz und Evangelium
Der entscheidende Unterschied im Wort Gottes ist für Luther der von Gesetz und Evangelium. Gott redet mit uns in der Bibel auf eine doppelte Weise, in Forderung und Geschenk, in Gericht und Gnade, in Verurteilung des Sünders und Vergebung, in Gesetz und Evangelium. Beides ist in der biblischen Botschaft enthalten, beides gilt es zu hören, zu predigen, anzunehmen und gelten zu lassen. Denn als Sündern gilt auch uns Christen das harte Wort des Gesetzes. Erst auf diesem Hintergrund leuchtet das Geschenk des Evangeliums auf, wird die Gnade "Gottes süße Wundertat", die er "gar teu'r" erworben hat. Ohne die Predigt des Gesetzes verkommt die Gnade zur "billigen Gnade", die nichts kostet und nichts wert ist.
Sie gehören zusammen und werden von Christus zusammengehalten, aber sie müssen auch voneinander unterschieden werden. "Das Neue Testament ist ganz im Alten gegründet, ja beschlossen; das Alte Testament ist erst im Neuen erschlossen und nicht anders als durch dieses zu verstehen". Die vorauslaufende Offenbarung Gottes im Alten Testament ist schon voller Verheißung und findet in Christus ihre Erfüllung (2. Kor 1,20). Das heißt, das Alte Testament muss und darf rückblickend von Christus her gelesen und verstanden werden.
Die Bibel war für Luther unzweifelhaft Gottes Wort.
Er wusste aber auch, dass wir das Evangelium in der Bibel durch menschliche Zeugen vermittelt erhalten, er erkannte die menschliche Art der Bibel. Das Apostolische der Botschaft hängt für ihn nicht an den Verfassern, sondern am Inhalt. Weil er im Jakobusbrief die Christuspredigt vermisste, vermochte er ihn nicht für echt apostolisch zu halten. Ähnlich ging es Luther mit der Offenbarung des Johannes: "Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken, und ist mir die Ursache genug, dass ich sein nicht hoch achte, dass Christus darinnen weder gelehret noch erkannt wird". Luthers große innere Freiheit in der Bewertung der Texte und Autoren gründete in seinem tiefen Verstehen der biblischen Botschaft.