Einer von ihnen ist Volker Herbert, Pfarrer im Ruhestand. Er verbringt jede Woche einige Stunden in einem Münchner Pflegeheim. Er erzählt: "27,2" sagt die Frau am Empfang nach kurzem Blick auf das Stirnthermometer und trägt das Ergebnis ihrer Messung wortlos in mein Corona-Anmeldeformular ein. 27,2? Soll ich lachen? Lieber nicht.
Die Atmosphäre im Haus ist angespannt.
Im Foyer sitzt wie immer Frau Z., über 100, und liest ihre Tageszeitung. Ihre eigene, wie sie betont. Das Eigene zu erhalten solange und soweit es geht, es manchmal buchstäblich mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, gehört zum Altenheim: Ein Kampf, der alle Beteiligten viel Kraft kostet, doch die Pflege hat dazugelernt. Trotz zwingend durchgetaktetem Tagesablauf, notwendiger Routine und erdrückendem Zwang zur Dokumentation gibt sie inzwischen den Bedürfnissen und Stimmungen der Bewohner mehr Aufmerksamkeit und Spielraum als früher.
Heutzutage ist das Alten- und Pflegeheim auch Palliativstation und Hospiz
M., Pflegerin im 2. Stock: "Wenn ich nach der Schicht gehe, möchte ich das Gefühl haben, alle Bewohner haben, was sie brauchen. Sonst nehme ich die Probleme und die Unzufriedenheit mit nach Hause. Leider ist es manchmal so, weil wir zu wenig Personal sind. Deshalb stehen Zimmer leer trotz Warteliste. Die Menschen, die zu uns kommen, sind eben nicht nur alt oder vergesslich, sondern haben schwere und pflegeintensive Krankheiten, können sonst nirgendwo hin. Wir müssen alles genau planen, aber ständig ändert sich etwas und wir kommen dann nicht nach. Das macht manche Bewohner noch verwirrter. Mit tut das richtig weh."
Heutzutage ist das Alten- und Pflegeheim auch Palliativstation und Hospiz. Der Übergang dorthin wird meist als Verlust an Lebensqualität und Freiheit empfunden. Gut, wenn Angehörige da sind, die diesen Schritt mit Verständnis und viel Geduld begleiten.
"Der da oben mag mich ned! Wann holt er mich endlich?"
Frau Z. Sie blickt von der Zeitung von vorgestern auf und fragt mich: "Ist heute Gottesdienst?" Ich lächle zurück. "Nein." Es berührt mich, dass sie den Gottesdienst vermisst. Sie seufzt und schaut zur Decke. "Der da oben mag mich ned! Wann holt er mich endlich?"
Frau Z. hört schlecht. Ihre Hörgeräte sind in ihrer Handtasche beim Goldschmuck. "Kaputt", sagt sie. Die Batterien sind leer. Inzwischen habe ich Reservebatterien dabei und mit ihrer Tochter darüber gesprochen. Geht doch.
Ein kleines Erfolgserlebnis. Das braucht es dringend als Gegenkraft zu den Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, dem Nichts-ändern-Können.
Zeit ist eigentlich etwas anderes, als was wir von ihr halten.
Wir gehen zu Frau O., nach Schlaganfall einst eingeliefert, Pflegegrad 5. Beim ersten Besuch liegt sie reglos und stumm da mit geschlossenen Augen. Ich setze mich an ihr Bett, spreche und schaue sie an, atme bewusst im selben Rhythmus, konzentriere mich ganz auf sie. Keine Reaktion. Nach einer Viertelstunde gehe ich, weil scheinbar nichts geht. Bei anderen gibt es mehr Resonanz und auch meine Zeit ist begrenzt.
Von ihr habe ich über die Zeit gelernt. Bei den folgenden Besuchen merke ich, dass sich schon dadurch etwas ändert, dass ich bei ihr im Zimmer bin. Ich muss nur warten. Es ist keine verlorene Zeit, im Gegenteil! Irgendwann öffnet sie ein Auge oder beide, dreht den Kopf auf mich zu oder von mir weg, schnauft hörbar, alles Botschaften. Und ich sage ihr, was ich verstehe. Bei meinem letzten Besuch hat sie plötzlich geweint, richtig geweint, und mich dabei angeschaut. Nach fünf Jahren. Zeit ist eigentlich etwas anderes, als was wir von ihr halten.
Oft geht es nur noch ums Aushalten
Heute sind ihre Haare noch ein bisschen feucht, Badetag. Das ist für alle anstrengend. Ich bleibe bei ihr und es tut mir gut. Ihre Familie hat schöne Bilder aufgehängt, ich fühle mich im Raum beschützt. Und es ist still. Ein seltenes Glück im Altenheim.
In anderen Räumen geht es nur noch ums Aushalten. Meist wortlos. Aber Hauptsache, nicht ganz allein.
Noch einen Moment innehalten in der Kapelle, ein zweckmäßiger Raum im Tiefgeschoss, aber dort wartete schon manchmal jemand Unbekanntes.
Noch einmal richtig Leben
So wie damals jene 94-Jährige, die sich in einen jungen Pfleger verliebt hatte und innerlich zwischen Glück, Zweifel und Angst hin- und hergerissen war. Ich wollte und durfte der Anwalt ihres Glücks sein. Wie voraussehbar wurde es zunehmend dramatisch und endete tragisch, aber sie wollte es und es war noch einmal richtig Leben.
Im Foyer sitzt immer noch Frau Z. Meinen Abschiedsgruß hört sie nicht. Draußen bleibe ich erst einmal stehen und schaue zum Himmel.
Kontakt
Servicestelle Altenheimseelsorge in der Landeskirche
Amt für Gemeindedienst
Tel. (09 11) 4 31 62 63
EMail: altenheimseelsorge@afgelkb.de
www.altenheimseelsorge-bayern.de
Mehr Informationen: handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/handlungsfeld4.php
Serie "Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung"
In der neuen Serie "Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung" stellen wir je einen Bereich der Seelsorge der Evangelischen Kirche in Bayern vor.
Folge 1: Landwirtschaftliche Familienberatung der Landeskirche
Folge 2: Telefonseelsorge
Folge 3: Gehörlosenseelsorge
Folge 4: Schulseelsorge
Folge 5: City-Seelsorgestellen
Folge 6: Seelsorge in Alten- und Pflegeheimen
Folge 7: Gemeindeseelsorge
Folge 8: Klinikseelsorge
Folge 9: Polizeiseelsorge
Folge 10: Notfallseelsorge
Folge 11: Seelsorgeausbildung
Folge 12: Studierendenseelsorge
Folge 13: Gefängnisseelsorge
Folge 14: Ehe-, Familien- und Lebensberatung der Diakonie
Folge 15: Militärseelsorge
Folge 16: Schwerhörigenseelsorge
Folge 17: Flughafenseelsorge
Folge 18: Blinden- und Sehbehindertenseelsorge