Der Sound, den das altehrwürdige, als Einrichtung des Berliner Rundfunks 1948 gegründete Profi-Ensemble in die Barockkirche zauberte, hallt bei den Zuhörerinnen und Zuhörern sicher noch lange nach.

Nicht nur wegen der Klasse des Chors an sich, gerade auch wegen der Akustik, die für einen rund 40-köpfigen Chor und die Größe des Kirchenraums ein absolut hautnahes Erlebnis wird, während es in den beiden berühmten und größeren Nürnberger Innenstadtkirche St. Lorenz und St. Egidien einiges mehr an Stimmen bräuchte, um ansatzweise diesen Eindruck aufkommen zu lassen.

Chorwerke der Moderne von Alfred Schnittke, Krzysztof Penderecki, Sven-David Sandström und Arvo Pärtstanden auf dem Programm. Zeitgenössische Komponisten, von denen der mittlerweile 86-jährige Pärt zumindest noch lebt. Bei Gegenwartswerken weiß der Gast meist nicht so genau, ob er klangliche Experimente aufgetischt oder einen leicht verdaulichen Mix aufgetischt bekommt.

Tief sakrale Musik

Im Falle des Konzertprogramms im Zuge des ION Musikfests erlebte er tief sakrale Musik, die von Glauben, Hoffnung und auch echter Gottesfurcht atmet. Modern, aber so selbstverständlich urtümlich, als ob sie schon vor der für heutige Ohren geläufigen Tonkunst und Satzregeln da zu sein schien. Zurück zu den Ursprüngen des musikalischen Ausdrucks, wie ihn nur die Stimme leisten kann. Eine Musik, die noch keine 100 Jahre alt ist, aber an Nürnbergs ältesten Kirchenort noch einmal intensiver wirkte als vielleicht anderswo.

Dirigent Peter Dijkstra wurde dabei zum Steuermann eines Klangkörpers, der immer homogen erschallte: Wenn dieser Chor einen Ton singt, dann singen nicht 40 Sängerinnen und Sänger einen Ton, sondern eben ein Chor. Die Matrosinnen und Matrosen raunten wie eine leise Welle, türmten sich auf zu einem atonalen Taifun, der bis an die Schmerzgrenze geht. Manchmal schien es eine teils heillose Unordnung der Töne und Taktmaße zu sein. Wie Musik wohl einst mal war, bevor Regeln wie Taktstriche, feste Tempi oder harmonische Grundstrukturen erschaffen wurden.

Allerdings erwies sich die Tonkunst eines Arvo Pärts beim elegischen "Nunc Dimittis" oder eines Krzysztof Pendereckis "Agnus Dei" nicht wahllos, sondern gewieft gesetzt – und zwar eingedenk allen Errungenschaften der Kompositionstechnik der vergangenen 2000 Jahre.

Der RIAS Kammerchor verstand sich in der Egidienkirche meisterhaft darin, ein versöhnliches "Christ with me" durch den Raum schwelgen zu lassen und Töne über schier endlose Taktreihen hinweg zu halten, dass man sich fragte, wie die da vorne das mit dem Luft halten schaffen. Im nächsten Moment schwoll der Klangkörper gerade beim besagten "Agnus Die bedrohlich an, steigerte sich immer weiter hinein, sodass der Cluster-Klang fast dem Wahnsinn nahe war.

Suche nach dem Größeren

Hatten die Sängerinnen und Sänger im ersten Teil des Abends kürzere Stücke gewählt, schien Alfred Schnittkes "Konzert für Chor" nach der Pause sämtliche gesanglichen Fakultäten und emotionalen Ausdrucksformen noch einmal in einem Guss ablaufen. Der 1998 gestorbene deutsch-russische Schnittke war nach eigenen Angaben Zeit seines Lebens auf der Suche nach etwas Größerem zwischen subjektiver Empfindung und objektiver Glaubenslehre. 
 
Eine Sehnsucht, die auch Dirigent Peter Dijkstra umtreibt und die auch andere Komponisten wie musikalische Leiter beschäftigt hat, die an dieser ION gespielt wurden beziehungsweise singen ließen. Einmal mehr zeigte das Konzert des RIAS Kammerchors, wie enorm die Bandbreite dieses Traditionsmusikfestivals ION ist.