Sie mussten lange warten, bis die 42. Passionsspiele stattfinden konnten. Wie fühlt sich das jetzt an, wo es losgegangen ist?
Cengiz Görür: Es ist eine Erleichterung. Die Proben und die Generalproben kurz vor der Premiere waren eine aufregende Zeit. Wir haben ja relativ spät angefangen mit den Proben, Anfang Januar 2021, und auch aufgrund der Corona-Lage waren viele nachdenklich und auch ein bisschen nervös. Aber jetzt ist es eigentlich ziemlich entspannt.
In der Berichterstattung wird immer wieder betont, dass Sie der erste muslimische Hauptdarsteller sind. Geht Ihnen diese ständige Betonung Ihrer Religionszugehörigkeit auf die Nerven?
Görür: Ich habe schon mitbekommen, dass darüber ziemlich viel gesprochen wird. Ich habe mich auch darauf vorbereitet und bin deshalb auch nicht überrascht, wenn Fragen dazu kommen wie: 'Sie sind der erste Muslim – wie ist das für Sie? Macht Ihnen das Druck?' Für mich ist das nicht nervig, es interessiert die Leute ja, und ich teile meine Meinung dazu so oft wie möglich mit und gebe meine Erfahrung wieder.
"Es ist egal, welcher Religion man angehört. Man muss nicht mehr katholisch sein und es dürfen seit 1990 auch verheiratete Frauen und Frauen über 35 mitspielen."
Also hat Ihre Religion keine Auswirkungen darauf, wie Sie Ihre Rolle anlegen?
Görür: Nein, als Schauspieler ist es wie in jedem anderen Beruf auch: Man fragt nicht, welcher Religion jemand angehört oder wo jemand herkommt, sondern macht halt einfach seinen Job. Natürlich ist es ein sehr christliches Stück. Aber es wurde ja sowieso ziemlich krass revolutioniert von Christian Stückl: Es ist egal, welcher Religion man angehört. Man muss nicht mehr katholisch sein und es dürfen seit 1990 auch verheiratete Frauen und Frauen über 35 mitspielen. Das ist alles keine Frage mehr.
War es für Sie dennoch schwierig, in diesem sehr christlichen Stück mitzuspielen?
Görür: Nein, im Gegenteil, es ist wirklich schön. Es ist für mich auch eine Möglichkeit, die christliche Religion nochmal anders erfahren zu dürfen. Sie miterleben zu dürfen, sie spielen zu dürfen, das ist was anderes als die Bibel zu lesen. Es macht mir Spaß und mich interessieren auch viele andere Religionen. Ich bin da sehr offen und es ist auf jeden Fall ein Vorteil für meine Allgemeinbildung – was die Religion angeht, aber natürlich auch fürs Schauspielerische.
"Christian Stückl hat mich angeschaut und meinte auf bayerisch: Cengiz, i dat di a kauf’n." (lacht)
Sie wurden von Christian Stückl in einem Eiscafé entdeckt, richtig?
Görür: (lacht) Stimmt. Das war damals, 2016. Da saß ich mit meiner Mutter im Eiscafé Paradiso hier bei uns im Dorf. Wir haben Kaffee getrunken und uns unterhalten – und währenddessen saß Herr Stückl hinter mir. Das habe ich aber nicht gewusst. Er hat mir anscheinend zugehört. Nach einer Viertelstunde hat er mich angetippt und gesagt: Ach, du bist es ja! Er kannte mich, denn er kennt meine Familie und mich schon als Kind, weil ich 2010 schon bei der Passion mitgewirkt habe. Jedenfalls hat ihm anscheinend meine Stimme gefallen. Er meinte, sie proben gerade für ein Stück, "Kaiser und Galiläer". Ob ich Lust habe, später 15 Minuten kurz mit auf die Bühne zu kommen. Ich habe meine Mutter angeschaut, weil ich nicht wusste, was ich damit anfangen soll. Ich hatte damals noch gar nichts mit Schauspielern am Hut. Meine Mutter hat gesagt: Komm, geh doch mit, mach was Neues, probiere das aus. Also bin ich mitgekommen. Er hat mir ein Skript in die Hand gedrückt und meinte: Stell dich mal in Richtung Publikum auf die Bühne und sag diese Sätze. Das habe ich gemacht. Dann hat er mich angeschaut und meinte auf bayerisch: Cengiz, i dat di a kauf’n. (lacht)
Und ab diesem Moment ging es für Sie mit der Schauspielerei los?
Görür: Ja. Für das Stück habe ich eine kleine Sprechrolle bekommen, da wusste ich noch nicht so genau, wie gehe ich auf der Bühne mit meiner Rolle um? Wie gehe ich mit den Leuten um? Wie stelle ich mich hin? Wie mache ich das? Wie spreche ich? Ich habe das alles vom Christian gelernt. In meinem nächsten Stück hab ich 2018 mitgespielt. Das war "Wilhelm Tell". 2019 hatte ich dann eine meiner bisher größten Rollen bei den Pestspielen.
Ab wann war klar, dass Sie bei den Passionsspielen eine Hauptrolle übernehmen werden?
Görür: Schon 2018, nach "Wilhelm Tell", meinte Christian Stückl zu mir: Ich werde dir bei den Passionsspielen eine Rolle geben, da werden dir die Ohren schlackern. (lacht) Da wusste ich noch nicht, was ich damit anfangen soll, ich habe mich einfach überraschen lassen.
Sie haben vorhin gesagt, Sie waren auch schon 2010 dabei. Wenn man in Oberammergau aufwächst, dann sind die Passionsspiele einfach Teil des eigenen Lebens, oder?
Görür: Ja, tatsächlich. 2010 war ich zehn Jahre alt, da habe ich noch nicht so richtig gewusst, was eigentlich die Passionsspiele genau bewirken, oder warum man sie macht. Ich dachte einfach, das ist halt so, dass man das in Oberammergau macht. Es war für mich einfach was Schönes, Gemeinschaftliches, mich mit allen meinen Freunden aus Oberammergau dort zu finden, sich davor zu treffen und dann zusammen zu den Passionsspielen zu gehen.
"Wir waren an den heiligen Orten, wo die Geschichten entstanden sind."
Vermutlich haben Sie sich inzwischen nochmal ganz anders mit der Vorgeschichte und der Bedeutung auseinandergesetzt?
Görür: Ja. Wir hatten 2019 ja auch eine Bildungsreise, da waren wir mit den ganzen Hauptdarstellern in Israel. Wir waren an den heiligen Orten, wo die Geschichten entstanden sind, wo es geschehen ist. Um besser in diese Geschichte reinkommen und uns besser in unsere Rolle hineinversetzen zu können. Wir hatten auch Unterstützung und wurden begleitet von Pfarrern. Es war eine sehr lehrreiche und schöne Zeit auch, die uns auch noch mehr zusammengeschweißt hat.
Hat Ihnen die Israel-Reise auch beim Interpretieren Ihrer Rolle geholfen?
Görür: Ja, schon. Es gibt einem schon einen Hype, sich vorzustellen, wie die Apostel durch so ein Tal gezogen sind, wo wir selber auch durchgewandert sind. Viereinhalb oder fünf Stunden sind wir durch dieses Tal gewandert, in brütender Hitze, mit wilden Tieren außen rum, also wirklich fernab von jeglicher Zivilisation.
"Es ist einfach ein sehr, sehr großes Privileg. So was passiert nicht oft in meinem Alter."
Was haben Sie gedacht, als Sie letztlich erfahren haben, dass Sie die Rolle des Judas spielen sollen?
Görür: Die Rollen-Bekanntgabe findet ja immer vor dem Foyer statt. Da ist dann ein Großteil des Dorfes auf diesem Platz versammelt. Auf einer Tafel stehen die Hauptrollen und eine Dame schreibt Buchstabe für Buchstabe langsam den Namen der jeweiligen Darsteller hin. Ich stand mit meinem Vater, seiner Freundin und ein paar anderen Freunden da, wir haben uns ein bisschen unterhalten. In dem Moment, als Judas dran war, war ich kurz abgelenkt, habe woanders hingeguckt. Und plötzlich stand mein Name schon fast vollständig da. Mein Vater und meine Freunde haben mich wachgerüttelt, da habe ich es erst realisiert. Es war wirklich ein heftiger Moment für mich. Es ist einfach ein sehr, sehr großes Privileg. So was passiert nicht oft in meinem Alter. Deshalb kann ich mich auch sehr, sehr glücklich schätzen.
Ihre Verkörperung des Judas wurde in vielen Berichten sehr positiv besprochen. Wie erleben Sie die Reaktionen?
Görür: Die Kritik ist wirklich überragend, zum Großteil sehr, sehr positiv. Und ich bin froh, dass es so ist, denn am Anfang wurde viel geredet: 'So jung schon so eine Rolle, und dann auch noch ein Muslim. Kann er den Judas spielen? Hat Christian sich was dabei gedacht?‘' Aber ihm ging es wirklich nur um ein Kriterium: Kann ich schauspielern oder nicht?
Ihr Judas ist ungewohnt sympathisch: Er verrät Jesus nicht des Geldes wegen, sondern weil er will, dass Jesus für Gerechtigkeit auf Erden kämpft.
Görür: Genau. Eigentlich ist es wie im echten Leben auch. Ich meine, wie oft kommt es zwischen zwei guten Freunden vor, dass man Meinungsverschiedenheiten hat? Dass der eine sagt: Nein, wir müssen es jetzt so machen. Und dann sagt der andere: Hey, Alter, nee, finde ich nicht, ich finde, wir sollten das anders machen. Das ist etwas sehr Menschliches und deswegen finde ich es auch super, dass es so inszeniert wurde, wie Christian es gemacht hat, weil es tatsächlich auch das Menschliche vom Judas zeigt.
"Ich bin mit jeder Rolle zufrieden."
Könnten Sie sich vorstellen, das nächste Mal den Jesus zu spielen?
Görür: Das wäre auf jeden Fall eine Herausforderung für mich. Es ist eine sehr, sehr energische Rolle, wo man immer ständig dranbleiben muss, mit sehr viel Text. Man muss auch körperlich unglaublich fit sein. Aber wenn die Passionsspiele das nächste Mal stattfinden, dann bin ich 30 Jahre alt. Dann hätte ich eigentlich das ideale Alter. (lacht) Aber ich will gar nicht sagen, ich möchte Jesus spielen – ich überlasse alles dem Schicksal und Christian Stückl, wie er die Rollen verteilt. Ich bin mit jeder Rolle zufrieden.