Wo ist die Damentoilette? Schilder, die eine Strichfigur mit Dreiecksbauch zeigen, weisen den Weg - überall auf der Welt. Piktogramme sind zur Weltsprache der Globalisierung geworden. Zu ihrem Siegeszug hat ihnen der Ulmer Gestalter Otl Aicher verholfen, geboren vor 100 Jahren am 13. Mai 1922.

Design der Olympischen Spiele 1972 wie aus einem Guss

Das Design der Olympischen Spiele 1972 in München erschien damals wie aus einem Guss - heiter, freundlich, klar und modern. Ein einheitliches Farbleitsystem mit den markanten Regenbogenfarben Himmelblau, Frühlingsgrün, Sonnengelb und Orange, dazu die allgegenwärtigen Piktogramme: Strichfigur in dynamischer Schräglage mit Kreis am Bein = Fußball, Strichfigur mit Kreis an der Hand = Handball - und so weiter.

Erfunden hat Otl Aicher, seit 1967 Gestaltungsbeauftragter der Münchner Spiele, die Sport-Piktogramme nicht; es gab sie bereits 1964 in Japan. Aicher hat ihnen aber zu jener ikonischen Gestalt verholfen, die in Erinnerung geblieben ist.

Aicher ging mit Werner Scholl zur Schule

Otto Aicher, den alle "Otl" nannten, ging mit Werner Scholl (1922-1944) zur Schule. Über ihn kam Aicher ab Herbst 1939 in engeren Kontakt mit der Familie und den Geschwistern Scholl. Aicher weigerte sich, der Hitlerjugend beizutreten, kam deswegen kurzzeitig in Haft. Kurz vor Kriegsende desertierte er aus der Wehrmacht.

Anders als die Geschwister Scholl kam Otl Aicher aus einer dezidiert katholischen Familie. Seine spätere Frau Inge Aicher-Scholl (1917-1998) hat mit ihrem 1947 erschienen Buch "Die weiße Rose" als erste das öffentliche Bild der Münchner Widerstandsgruppe geprägt, der ihre jüngeren Geschwister Hans und Sophie angehörten. Die Scholls waren eine gläubige evangelische Familie, Inge Scholl konvertierte 1945 zum Katholizismus.

Otl Aicher und Mitarbeiter, Olympische Spiele 1972 München, Entwurf 1970-71
Otl Aicher und Mitarbeiter, Olympische Spiele 1972 München, Entwurf 1970-71.
Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, die älteste Schwester von Hans und Sophie Scholl
Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, die älteste Schwester von Hans und Sophie Scholl.
Die Rotis-Mühle in Leutkirch – produktives Refugium und "autonome republik" Otl Aichers.
Die Rotis-Mühle in Leutkirch – produktives Refugium und "autonome republik" Otl Aichers.
Der typisch Münchner Dackel "Waldi" war das Maskottchen der Olympischen Spiele 1972. Seine Farben waren durch das Farbgestaltungsschema des großen Designers Otl Aicher (1922-1991) vorgegeben. Für Experten und Olympia-1972-Fans: Die Farben sind HKS 4 – Sonnengelb, HKS 6 – Orange, HKS 45 – Blauviolett, HKS 50 – Hellbau, HKS 64 – Grün, HKS 67 – Hellgrün. Sie prägen bis heute auch die Erinnerung an die Spiele von München. Aicher, Gründer der Hochschule für Gestaltung Ulm, schuf für die Münchner Spiele ein umfassendes Gestaltungskonzept, das von den Helferuniformen bis zu den Eintrittskarten reichte. Mit seinen Piktogrammen für die Sportarten und zur Orientierung schuf er eine neue internationale Zeichensprache. Otl Aicher war frommer Katholik und entschiedener Nazi-Gegner. Er war verheiratet mit der ältesten Schwester der Geschwister Scholl, Inge Aicher-Scholl (1917-1998). Er schuf das Corporate Design der Lufthansa und die Schriftfamilie Rotis, die heute die "Hausschrift" der evangelischen Kirche ist. Auch das Evangelische Gesangbuch ist in ihr gesetzt. Sie ist benannt nach dem Allgäu-Dorf Rotis, in dem Otl Aicher einen Atelier-Bauernhof besaß.
Von Otl Aicher und seinen Mitarbeitern entwickelte Piktogramme (Erco, 1976)
Von Otl Aicher und seinen Mitarbeitern entwickelte Piktogramme (Erco, 1976).
Otl Aicher
Otl Aicher.
Plakat von Otl Aicher: »Nein«, Volksversammlung, 1983.
Plakat von Otl Aicher: »Nein«, Volksversammlung, 1983.
Er prägte das Gesicht der westdeutschen Nachkriegsmoderne: Otl Aicher (1953).

Grafik als soziale Kommunikation

Gemeinsam mit ihr gründete Aicher 1946 die Ulmer Volkshochschule. Daraus entstanden Pläne, eine Hochschule für Gestaltung einzurichten. Sie sollte mithelfen, ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland zu bauen. Grafik sollte sozialer Kommunikation dienen, Produktgestaltung den Alltag menschlicher machen. "Kloster zum rechten Winkel" nannten Spötter die von Otl Aicher und Max Bill mitbegründete Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG), die als erste private Hochschule der Bundesrepublik im August 1953 den Lehrbetrieb aufnahm.

Aicher wurde zu einem Wegbereiter des Corporate Designs: "Es ist faszinierend, zu sehen, wie Aicher es geschafft hat, immer wieder zum Kern zu kommen", sagt der Detmolder Professor für Produktdesign und Ergonomie, Ulrich Nether. Ob in den 60er Jahren bei der Lufthansa, bei den Münchner "Regenbogen"-Spielen von 1972, danach bei Braun oder mittelständischen Unternehmen wie dem Landshuter Küchenhersteller Bulthaup, dem Türgriff-Produzenten FSB aus Brakel oder dem Lüdenscheider Leuchtenhersteller Erco - Aicher sorgte für ein prägendes Erscheinungsbild.

Aicher hat dazu eine umfangreiche Textproduktion hinterlassen, "vorbildliche theoretische Werke", wie Nether findet. Aicher schrieb "Die Küche zum Kochen" (1982) oder "Greifen und Griffe" (1987). Aber er dachte auch über soziale und politisch-philosophische Fragen nach: "innenseiten des kriegs" (1985) entstand im Zusammenhang mit den Protesten von Mutlangen gegen den Nato-Doppelbeschluss und der Friedensbewegung der 80er Jahre, in der sich der Gestalter engagierte.

"Otl Aicher hat eine ganz eigene Art zu schreiben", sagt Ingrid Krauß, Leiterin des Projekts otlaicher.de beim Internationalen Design Zentrum Berlin, "sie zieht einen in den Strudel seines Denkens." Auf Initiative des Aicher-Sohns Florian und des Berliner Designers Kai Gehrmann entsteht eine zentrale Online-Plattform zu Leben und Werk des Gestalters.

Die Welt im Denken und Handeln entwerfen

Als Gestalter verstand er sich als einer, der die Welt im Denken und Handeln entwirft, durch umfassendes Durchdenken zur Form findet. Sein Credo war: "Design und Kunst verhalten sich wie Wissen und Glauben."

Für die Olympischen Spiele verwendete Otl Aicher noch die Schrift Univers. Erst gegen Ende seines Lebens entwickelte er selbst eine Schrift. Nach dem Allgäuer Weiler, in dem Aicher und seine Familie seit 1972 lebten, nannte er sie Rotis. Im Leben protestantischer Kirchgänger ist die Typografie des Katholiken Otl Aicher allgegenwärtig: Das Evangelische Gesangbuch (1994) ist in Rotis gesetzt - jedenfalls das der Landeskirchen Bayerns, Württembergs, in Mitteldeutschland und in Mecklenburg-Vorpommern.

Großbuchstaben fügte Aicher seiner Rotis-Schrift widerwillig erst nachträglich hinzu. Für ihn, der konsequent alles klein schrieb, war auch die Orthografie politisch. Einzelne Wörter durch Großschreibung hervorzuheben, war für Aicher ein Symbol der Hierarchie und der Unterdrückung.

Als Vater streng und abwesend

Sein Sohn Florian Aicher, der heute in Rotis lebt, hat den Vater dennoch als streng und abwesend erlebt: "Er war ein Vater in der Mitte des 20. Jahrhunderts - ein Mensch, der zutiefst davon überzeugt war, dass er einen Teil zum Bau dieser Welt beitragen muss", sagt Florian Aicher.

In seiner gesellschaftspolitischen Schrift "Kritik am Auto" hatte Otl Aicher 1984 die "Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter" versucht. Ein Motorrad wurde dem großen Gestalter zum Verhängnis: Im Spätsommer 1991 arbeitete Aicher in Rotis im Garten und fuhr mit dem Rasenmäher rückwärts aus seinem Grundstück. Ein Motorradfahrer erfasste ihn. Aicher erlitt schwere Kopfverletzungen, an deren Folgen er am 1. September starb. Er wurde nur 69 Jahre alt.

AUSSTELLUNGEN

www.otlaicher.de
Im Internet entsteht unter der Adresse www.otlaicher.de eine zentrale Online-Plattform zu Leben und Werk Otl Aichers. Initiiert haben das Projekt des Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ) der Aicher-Sohn Florian und der Berliner Designer Kai Gehrmann. Förderer sind die Kulturstiftung des Bunds sowie die von Otl Aicher geprägten Firmen FSB und Erco. Online ab 13. Mai.

Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate
Mit der Ausstellung "Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate" würdigt das HfG-Archiv / Museum Ulm den diesjährigen 100. Geburtstag dieses großen Gestalters, der am 13. Mai 1922 in Ulm-Söflingen geboren wurde, und präsentiert eine Auswahl von 100 Plakaten als eines der zentralen und prägendsten Medien in dessen umfangreichen Werk.
Wo: HfG-Archiv / Museum Ulm, Am Hochsträss 8, 89081 Ulm
Wann: Noch bis 08. Januar 2023
Internet: museumulm.de

Otl Aicher: Widerstand und Protest – Symbole, Gesten, Signale.
12. November 2022 bis 16. April 2023 im Museum Ulm

Aicher 100 Festival 
Drei Festtage zu Otl Aichers Geburtstag mit Beiträgen von Zeitzeugen, Kollegen, Fans und Freunden (Streams, Panels und Veranstaltungen) – 13., 14., 15. Mai, Pavillon 333 vor der Pinakothek der Moderne, München (Türkenstr. 15).
Internet: aicher100.de

»piktogramm | schrift | logo«
Otl-Aicher-Ausstellung im Lippischen Landesmuseum Detmold, 18. Mai bis 18. August 2022.
Internet: 
www.otlaicher2022.de

Nicht nur, aber auch um Otl Aicher geht es in der Ausstellung »Design für Olympia« der Neuen Sammlung | The Design Museum in der Pinakothek der Moderne, München; 8. Juli bis 3. Oktober 2022.
Internet: dnstdm.de

BUCHTIPP

Winfried Nerdinger, Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.): Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker. Prestel Verlag, München, 2022. 256 Seiten, 250 Farbabbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-7913-7943-2. 49 Euro. Erscheint am 9. Mai.