Der Holocaust-Gedenktag Jom HaSchoah wurde 1951 vom israelischen Parlament auf den 27. des Monats Nissan (April/Mai) gelegt. Er wird in Israel, aber auch in vielen anderen Ländern begangen.
Wir haben mit Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern gesprochen. Sie erklärt, was Jom HaSchoah vom Holocaust-Gedenktag am 27. Januar unterscheidet, welche Bedeutung Widerstand aus jüdischer Sicht hat und welche besondere Rolle Erinnerungskultur in der jüdischen Tradition spielt.
"Bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben Juden eine Gedenkkultur entwickelt, die an die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums erinnern sollte."
Was unterscheidet den Gedenktag Jom HaSchoah vom Holocaust-Gedenktag am 27. Januar?
Ellen Presser: Es gibt zwei große Unterschiede. Der Holocaust-Gedenktag ist ein Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Jom HaSchoah bezieht sich ausdrücklich auf die jüdischen Opfer der Nationalsozialisten, auf die sechs Millionen jüdischen Menschen, die in diesem Inferno zugrunde gegangen sind. Denn, und das ist der zweite Unterschied, bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben Juden eine Gedenkkultur entwickelt, die an die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums erinnern sollte. 1951 führte der damals junge Staat Israel den Gedenktag ein. Das entspricht auch durchaus der jüdischen Tradition. Wenn Sie sich den jüdischen Jahreszyklus anschauen, dann haben Sie eine Reihe Feier- und Gedenktage, die an historische Katastrophen in der jüdischen Geschichte erinnern. Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist hingegen relativ jung. In Deutschland wurde er 1996 erstmals begangen und erst ein paar Jahre später, nämlich 2005, ist er von den Vereinten Nationen zu einem internationalen Tag des Gedenkens erklärt worden.
Ein weiterer Unterscheid ist: Der Holocaust-Gedenktag bezieht sich auf die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, Jom HaSchoah auf den Aufstand im Warschauer Getto.
Presser: Richtig. Auschwitz gilt ja als das große Symbol für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Ein sehr großer Anteil der Opfer dort war jüdisch, aber in Auschwitz und Auschwitz-Birkenau sind auch Menschen anderer Herkunft ermordet gerichtet worden.
Der Aufstand im Warschauer Ghetto begann am 19. April 1943. Warum ist Jom HaSchoah dann dieses Jahr am 28. April?
Presser: Das hat mit dem jüdischen Kalender zu tun. Ursprünglich wäre das entsprechende Datum der 14. Nisan gewesen. Aber weil man im Judentum immer auch pragmatisch denkt, ist man vom 14. Nisan abgekommen, weil dieses Datum sich mit dem Pessachfest überschnitten hätte. Und zu Pessach kann kein Gedenk- und Trauertag stattfinden, denn da wird schon eines anderen Ereignisses gedacht: Des Auszugs aus Ägypten und der anschließenden Wanderung durch die Wüste für 40 Jahre. Das konnte und wollte man nicht koppeln mit dem Gedenken an den verzweifelten Widerstand und die Ermordung der Juden in Warschau, stellvertretend für die Ermordung von Juden an vielen Orten in ganz Europa. Darum hat man dann ein anderes Datum gewählt. Da sich der jüdische Kalender aber nicht nur an der Sonne, sondern auch am Mond orientiert, fällt der Jom HaSchoah im Gregorianischen Kalender jährlich immer wieder auf ein anderes Datum im Monat April.
"Was ist Widerstand für Juden? Es ist schon Widerstand, zu überleben."
Interessant ist, dass als Anlass ein Akt des Widerstands gegen die Vernichtung genommen wurde.
Presser: Dahinter steckt eine sehr interessante Frage, nämlich: Was ist Widerstand für Juden? Es ist schon Widerstand, zu überleben. Es ist Widerstand, das Ringelblum-Archiv im Warschauer Ghetto aufzubauen, das heißt alles zu sammeln, von Tagebuchaufzeichnungen über Speisekarten bis zu Plakaten und die in der Erde zu verbuddeln für irgendeinen kommenden Tag – und das zu einer Zeit als man nicht die geringste Aussicht hatte, zu überleben, damit es Zeugnisse gäbe von diesem Versuch, seine Würde zu behalten und zu überleben. Und dann gibt es den bewaffneten Widerstand, den die Menschen im Warschauer Ghetto begannen, als sie sahen, dass es keine physische Rettung geben würde. Sie wollten wenigstens mit erhobenem Haupt und unter Mitnahme so vieler Verbrecher und Mörder wie möglich untergehen.
Aber vielleicht ist Widerstand auch das, was meiner Mutter gelang: Sie hat zu dieser Zeit in Warschau gelebt, aber nicht im Ghetto, sondern auf der so genannten "arischen" Seite. Sie war in eine Großstadt gegangen, weil sie davon ausging, dass da ihre Überlebenschancen größer seien unter lauter Fremden. Sie hat bei einer polnischen Familie als Kindermädchen gearbeitet und war natürlich jeden Augenblick in Gefahr, aufzufliegen und ausgeliefert zu werden. Ist das auch schon eine Form von Widerstand, sich nicht unterkriegen zu lassen, sich nicht aufzugeben, sondern immer noch nach einem Ausweg zu suchen?
Wie sehen Sie das?
Presser: Der Begriff Widerstand ist unter jüdischen Historikern sehr intensiv und kontrovers diskutiert worden. Raul Hilberg vertrat eher den Standpunkt, dass die Juden sich wie Lämmer zur Schlachtbank hätten führen lassen. Arno Lustiger widersprach dem ganz entschieden und betonte, Widerstand könne sehr verschiedene Gesichter haben. Ich bin eher eine Anhängerin der Positionen von Arno Lustiger.
"Heldentum heißt sich nicht aufgeben, sondern kämpfen."
Der Gedenktag heißt vollständig "Tag des Gedenkens an Holocaust und Heldentum". Bezieht sich Heldentum auch auf den Widerstand?
Presser: Ja. Heldentum heißt sich nicht aufgeben, sondern kämpfen. Ob man kämpft ums Überleben, ob man kämpft, um seine Familie zu verteidigen oder ob man kämpft, um seine Würde zu bewahren. Das kann ganz unterschiedlich aussehen.
Wie wird der Gedenktag in Israel und weltweit begangen?
Presser: In Israel gibt es eine ganz besondere Zeremonie, die sehr eindrucksvoll ist: Um 10 Uhr vormittags heulen für zwei Minuten die Sirenen, und da bleibt das Land wirklich für ein paar Minuten komplett stehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auch die Autos, die auf den Autobahnen fahren, auf den Schnellstraßen, mitten in der Rushhour – was immer es ist, alles hört auf. Die Menschen steigen aus. Man steht im stillen Gedenken und die Sirenen heulen. Das kann man natürlich in der Diaspora so nicht begehen. Und deshalb ist es in vielen jüdischen Gemeinden üblich geworden, entweder an dem Tag selbst oder am Vorabend mit einer Gedenkveranstaltung an diese Katastrophe zu erinnern.
Warum am Vorabend?
Presser: Da nach der jüdischen Tradition jeder Tag am Vorabend beginnt, wird bei uns in München die Gedenkveranstaltung am Abend vorher durchgeführt, dieses Jahr also am 27. April.
"In München haben wir die Tradition, Zeitzeugen einzuladen, jüdische Menschen, die diese Katastrophe überlebt haben und die über ihre Erfahrungen berichten."
Wie läuft die Gedenkveranstaltung bei Ihnen ab?
Presser: In München haben wir seit vielen Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten, die Tradition, Zeitzeugen einzuladen, jüdische Menschen, die diese Katastrophe überlebt haben und die über ihre Erfahrungen berichten. Diese sollen für die Ankündigung ihrer Beiträge immer eine persönliche Überschrift finden. Diese Überschriften finde ich sehr spannend. Zum Beispiel hatten wir 2006 Schoschana Rabinovici bei uns zu Gast. Das ist die Mutter des österreichischen Literaten und Historikers Doron Rabinovici. Sie hat ihren Beitrag überschrieben mit den Worten: "Dank meiner Mutter". Das versteht man sofort: Ihr Überleben verdankte sie ihrer Mutter. Im Jahr danach war der Journalist Ernst Cramer zu Gast, ein gebürtiger Augsburger, und der sagte zu seinem Beitrag: "Erinnern und weitermachen".
2008 hatten wir einen Historiker aus Österreich zu Gast, Jonny Moser. Der betitelte seinen Beitrag mit "Nicht wissen, ob man überleben wird". 2012 war ein Jude aus Budapest eingeladen, der aber schon sehr lange in München lebt, Georg Heller. Und er hat ganz lapidar gesagt: "Mensch bleiben". Weil er eben die Erfahrung gemacht hatte, dass man innerhalb kürzester Zeit, innerhalb von drei Tagen, um sein ganzes Menschsein gebracht werden kann.
Was ist die Überschrift dieses Jahr?
Presser: 2022 ist die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, dran. Und sie wählte für ihren Beitrag die Überschrift: "Den Staffelstab der Erinnerung weitergeben".
Sie wirft also die Frage auf, wie man mit Gedenken umgeht, wenn keine Zeitzeugen mehr am Leben sind?
Presser: Das treibt sie tatsächlich um. Es ist ein großes Anliegen, dass diese Erinnerung nicht verloren geht. Um das zu sichern, hat sie auch einen Teil der Gedenkstunde initiiert, in dem Kinder und Jugendliche Texte vortragen, die sie vorher ausgesucht haben. Das ist inzwischen ebenfalls Tradition bei uns. Die Jugendlichen haben dafür auch ihre eigenen Überschriften. 2015 zum Beispiel, da hatten wir Leon Weintraub, der in Lodz geboren wurde, bei uns zu Gast sein. Sein Beitrag hatte den Titel "Ein Stück länger leben" und die Jugendlichen haben für ihren Beitrag die Überschrift gewählt: "Ein Gedenken, das niemals endet".
"Jom HaSchoah ist eine jüdische Antwort auf diese namenlose, gigantische Katastrophe, der rund sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer fielen."
Angesichts der von Ihnen vorher erwähnten Langlebigkeit jüdischer Gedenktage besteht berechtigter Anlass zur Annahme, dass auch in vielen Jahren und Jahrzehnten noch der Opfer der Shoah gedacht wird, oder?
Presser: Tatsächlich ist das eine Gedenkkultur, die sich immer weiterentwickelt und die die Erinnerung an grausame Ereignisse so bewahrt, dass die Opfer nicht vergessen sind. Das ist eine Art, mit den Traumata der schrecklichen Erfahrungen umzugehen: Man gießt das in eine feste kulturelle Form. Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, Erinnerungskultur zu pflegen. Und der Jom HaSchoah ist eine jüdische Antwort auf diese namenlose, gigantische Katastrophe, der rund sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer fielen.