Zum 13. Mal fand der Digitalkongress re:publica in Berlin statt. Der Kongress gilt mit rund 500 Sessions und mehr als 1.000 Vortragenden als eines der größten Events seiner Art in Europa. Unter dem Motto tl;dr: ("too long; didn’t read", zu Deutsch: War zu lang, deswegen nicht gelesen) widmete sich die re:publica in diesem Jahr dem Kleingedruckten, also der "Notwendigkeit und Dringlichkeit, die Themen kritisch zu hinterfragen, die polarisieren, uns spalten – oder auch vereinen", wie die Veranstalter erklärten.
Bundespräsident Steinmeier fordert "Herkunftssiegel für Informationen"
Eröffnet wurde der Digitalkongress, der rund 25.000 Gäste nach Berlin lockte, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "Dieses Motto ist ein Weckruf an die politische Debattenkultur – eben nicht nur im Netz, sondern ganz allgemein", sagte Steinmeier. Wer in Deutschland und Europa das große Geschäft mache, müsse geltendes Recht achten und nicht immer wieder Grenzen austesten, Schlupflöcher suchen und Umsetzung verschleppen. Wer dies dennoch tue, der müsse mit Konsequenzen und Strafen rechnen, betonte der Bundespräsident. Das gelte vom Datenschutz bis zum Wettbewerbsrecht.
Das Geschäftsmodell an sich, die Maximierung von Werbeeinnahmen, bringe keine Maximierung von Debattenqualität, warnte er. Deshalb brauche es eine demokratische Regulierung. Das gelte zum Beispiel für die Transparenz: "Solange die schnelle Lüge und die seriöse Nachricht, der überprüfte Fakt und die bloße Meinung, solange Vernunft und Hetze unterschiedslos nacheinander in Newsfeeds auftauchen, solange haben es Demagogen viel zu einfach." Steinmeier forderte "glasklare Herkunftssiegel für Informationen", vor allem, wenn es um politische Werbung gehe. Transparenz über Geldflüsse und Abhängigkeiten sei der effektivste Weg, um Demagogen und Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Steinmeier stellte in seiner Rede die Frage, was eine "so analoge Institution wie der Bundespräsident" auf einer so digitalen Veranstaltung wie der re:publica zu suchen habe. Manche im Publikum befürchteten womöglich, sie müssten die Nationalhymne mit ihm singen, scherzte er und fügte als Antwort hinzu: "Es ist nicht die Etikette, die uns heute zusammenbringt, sondern es ist die Sache." Denn die re:publica 2019 bekenne sich zu Recherche, Differenzierung und Abwägung, gegen Unwissen, Grobschlächtigkeit und falsche Vereinfachung - ein notwendiger Weckruf gegen den Zeitgeist der Verkürzung. "Wer Nebensätze nicht zum Feind erklärt, der hat den Bundespräsidenten zum natürlichen Verbündeten."
Frank Rieger: Vertrauensverlust in die Institutionen
Die politische Kultur im Netz nahm auch Frank Rieger vom Chaos Computer Club (CCC) ins Visier. Er zeichnete ein extrem pessimistisches Bild: Wahlen würden heute meist nur mit einer knappen Mehrheit entschieden. Wer die Meinung beeinflussen wolle, müsse oft nur an "kleinen Modifikationen" in der Kommunikation arbeiten, um eine bestimmte Gruppe von Menschen gezielt zu beeinflussen, sagte Rieger. Wählerinnen und Wähler könnten immer einfacher und subtiler manipuliert werden.
Aktuelle Nachrichten strömen seiner Meinung nach nur noch wie ein permanentes Grundrauschen an den Menschen vorbei. Wenn dann doch einmal eine Schlagzeile die Aufmerksamkeit der breiten Masse errege, ziehe sie meist so schnell wieder vorbei wie ein Gewitter. "Fakten haben keine Bedeutung mehr", sagte Rieger und nannte als Beispiel die Diskussion um die Impfpflicht in Deutschland. Immer seltener würden sich die Menschen auf wissenschaftliche Erkenntnisse verlassen: "Wir akzeptieren nichts mehr und fragen wie kleine Kinder immer weiter: Warum?". In der Entwicklung führe das zu einer Situationen wie in Großbritannien, wo inzwischen keiner mehr erklären könne, was die Menschen eigentlich wollten und Konsens kaum mehr möglich ist.
Rieger zufolge tragen Plattformen wie Facebook erheblich zum Vertrauensverlust in Institutionen bei: "Soziale Medien sind Manipulationsplattformen. Das ist ihr Zweck, nichts anderes", betonte er. Mit ihren Geschäftsmodellen sorgten diese Plattformen dafür, dass "Hass profitabel gemacht wird". Deshalb seien sie inkompatibel mit einer demokratischen Gesellschaft. "Social Media taugt für Katzenbilder, aber nicht für die politische Kommunikation", lautete Riegers Fazit.
Cybercrime und Deepfake sind Gefahr für die Demokratie
Rieger warnte außerdem vor einem weiteren Anstieg von Cybercrime. Immer häufiger würden große Konzerne, aber auch kleine und mittlere Unternehmen schwer attackiert. Als Beispiel nannte er den Angriff auf den Aluminiumhersteller Norsk Hydro. Dort legten Hacker das globale Netzwerk des Konzerns zuerst lahm, um dann Lösegeld zu fordern. Die Folgen waren schwerwiegend: Container konnten nicht mehr geortet und kontrolliert werden. Die Suche nach den Urhebern solcher Cyberattacken werde immer schwieriger, sagte Rieger. Die eingesetzte Malware ist mittlerweile meist so geschickt modifiziert, dass die Quelle kaum noch nachvollziehbar sei.
Als weitere große Gefahr für die Demokratie stuft Rieger die vermehrte Produktion von "Deepfakes" ein. Manipulierte Videos sorgten für einen "Zerfall der Realität". Ein Beispiel dafür sei der Fall des Präsidenten von Gabun, Ali-Ben Bongo. Seine diesjährige Neujahrsansprache steht unter dem Verdacht, ein digitaler Deepfake gewesen zu sein und führte in dem zentralafrikanischen Land zu einem sehr realen aber letztlich gescheiterten Militärputsch. "Wir müssen aufpassen, dass die Lüge nicht zur Realität wird", so Rieger.
EU-Kommissarin Margarethe Vestager setzt auf Transparenz
Die grundlegende Veränderung der Gesellschaft durch die Digitalisierung thematisierte die EU-Kommissarin Margarethe Vestager. Ziel der Staatsregierungen müsse es sein, die digitale Gesellschaft aktiv zu formen. "Wir dürfen unsere digitale Welt nicht den Unternehmen überlassen", forderte sie.
Als zentralen Schlüssel für die Gestaltung der Gesellschaft betrachtet die Politikerin den Umgang mit Daten: "Wer Zugang zu den Daten bekommt, bestimmt den Markt." Als Beispiel schilderte sie das Geschäftsmodell von Amazon: Das Unternehmen habe sich zunächst als Plattform für den Einzelhandel etabliert. Mit der Eröffnung eigener Läden werde Amazon aber mittlerweile zu einer unmittelbaren Konkurrenz für den Handel. Es müsse geprüft werden, wie der Konzern mit Daten umgehe – und ob ein fairer Wettbewerb noch gegeben sei.
Vestager machte deutlich, dass es ihr nicht darum geht, Konzerne und Plattformen zu zerschlagen. Vielmehr müsse der Markt wieder reguliert werden, um einen fairen Wettbewerb sicherzustellen. Nötig sei dafür vor allem Transparenz: "Wir müssen genau wissen, was am Markt geschieht, um ihn regulieren zu können", so Vestager. Die Europäische Union setze dabei auf die Partizipation vieler Länder. Geplant seien zudem häufiger Konsultationen, bei denen die breite Gesellschaft ihre Meinung einbringen soll.
Für den digitalen Wandel ist die Europäische Union nach Meinung von Vestager gut aufgestellt. In der EU gebe es etliche gute Start-ups. Nun müsse daran gearbeitet werden, dass internationale Geldgeber in diese Start-ups investieren, damit die Unternehmen wachsen können. Vor dem re:publica-Publikum formulierte die EU-Kommissarin selbst zwei Geschäftsideen: Warum gibt es nicht eine App, die dafür sorgt, dass die individuellen Datenschutz- oder Cookie-Einstellungen automatisch bei jeder Anfrage übertragen werden? Und warum gibt es keine EU-Suchmaschine mit dem "Privatmodus" als Grundeinstellung?
Nanjala Nyabola aus Kenia über Politik im digitalen Zeitalter
Nachdem die re:publica im vergangenen Jahr auch in Ghanas Hauptstadt Accra Station gemacht hatte, war es nur logisch, dass in diesem Jahr auch Vertreter des afrikanischen Kontinents nach Berlin kamen. Die kenianische Forscherin Nanjala Nyabola hat die Wahlen von 2017 in ihrem Heimatland analysiert, bei denen es zu Ausschreitungen und Unregelmäßigkeiten gekommen war. Sie beschreibt die Wahlen vor allem als tiefgehenden Vertrauensbruch innerhalb der Bevölkerung.
So wurden die privaten Daten vieler Kenianer, die unter anderem aus einem Gewinnspiel stammten, von Social-media-Firmen zur Verbreitung von politischen Botschaften genutzt. Zusätzlich haben ausländische Firmen massiven Druck auf kenianische Politiker ausgeübt – zum Teil mit Drohungen oder Bestechung. Vor allem aber nutzten sie die Wahlen schamlos aus, um Geschäfte zu machen.
Messengerdienste wie WhatsApp können dabei helfen, Vertrauen und Zusammenarbeit zu fördern – insbesondere unter Minderheiten. Gleichzeitig eignen sie sich aber auch als Kanal für Hassreden außerhalb jeglicher öffentlicher Kontrolle. "Social Media hat die ethnische Identität in Kenia sowohl gestärkt als auch untergraben", meint Nyabola.
Alex Rosenblat: Wie Technologie die Arbeitswelt verändert
Ist unser Chef in Zukunft ein Algorithmus? Wie stark Technologieunternehmen unsere Arbeitswelt verändern, erläuterte die US-Wissenschaftlerin Alex Rosenblat anhand ihrer Untersuchung des Silicon-Valley-Taxiunternehmens Uber. Vier Jahre lang hat die "Technologie-Ethnografin" sich Geschichten von TaxifahrerInnen in mehr als 25 Städten in den USA angehört und analysiert.
An etlichen Beispielen zeigte Rosenblat auf, wie undurchsichtig das Unternehmen agiert – und wie stark die Fahrer von Algorithmen abhängig sind. Das Taxiunternehmen Uber trackt jede Bewegung der Fahrer und jede Interaktion mit der App. Sogar das Wackeln des Smartphones während der Fahrt wird ausgewertet. Die App wird über Algorithmen gesteuert. Das führte unter anderem dazu, dass TaxifahrerInnen plötzlich nur zu bestimmten Arbeitszeiten gut bezahlt wurden oder bestimmte Verhaltensweisen dazu führten, dass die FahrerInnen schlechter gestellt wurden.
"Algorithmen modellieren das Verhalten der Mitarbeiter", sagte Rosenblat. An dem Techkonzern Uber werde deutlich, wie "Algo-Bosse" unsere Arbeitswelt prägen. "Wir sollten die Macht eines gesichtslosen Chefs nicht unterschätzen", so das Fazit. Die Technologie nehme immer stärker Einfluss auf den Umgang mit Mitarbeitenden. "Wir laufen Gefahr, dass die Technologie unser Denken reguliert und nicht umgekehrt", so Alex Rosenblat.
Miriam Rehm: Finanzvermögen sorgt für Ungleichheit in Gesellschaft
Die Sozioökonomin Miriam Rehm ist Juniorprofessorin für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Empirische Ungleichheitsforschung am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen. Sie präsentierte auf der re:publica eine Studie über den Zusammenhang zwischen Macht und Digitalisierung. Das Finanzvermögen in Deutschland verteilt sich in den letzten Jahren demnach auf immer weniger Menschen. So befindet sich der Aktienbesitz heute bei nur noch elf Prozent aller Haushalte in Deutschland, so Rehm. Diese "extreme Ungleichheit" werde in den nächsten Jahren weiter zunehmen.
Rehm beließ es nicht nur bei der Kritik, sie stellte auch Lösungen vor, um die fortschreitende "Finanzialisierung" einzudämmen. Neben der Einführung einer Digitalsteuer für Unternehmen schlägt die Forschergruppe um Rehm auch eine gezielte Besteuerung von Kapitaleinkommen vor. Staatsfonds sollten künftig nicht nur renditeorientiert angelegt werden, sondern sich stärker an anderen Werten wie Nachhaltigkeit orientieren. Schließlich könne der Staat auch Unternehmensanteile einfordern, etwa im Gegenzug zu Fördermitteln.
Alexander Gerst besucht "Tincon" für Jugendliche
Einer der Gründe, warum die re:publica so spannend ist, sind neue Formate, die im Rahmen der Veranstaltung vorgestellt werden – in diesem Jahr zum Beispiel ein Angebot für Jugendliche und Schulklassen mit dem Schwerpunkt Medienkompetenz, Bildung und Ausbildung. Auf der "Tincon" erzählte Sophie Passmann von ihrem "Jahr ohne Pause im Internet" und Alexander Gerst berichtete von seiner zweiten ISS-Mission, der Zukunft der Weltraumexploration und interstellarem Umweltschutz.
Sowohl technisch als auch inhaltlich beeindruckend war die Live-Zuschaltung von Digitalministerin Audrey Tang aus Taiwan: Ihr Mix aus Videotelefonie, Präsentation und Live-Chat machte deutlich, dass in Deutschland noch ein weiter Weg zurückzulegen ist zu einem digitalen Staat, der auf Partizipation, Open Source und Big Data setzt.
tl;dr
tl;dr steht für "too long; didn’t read”, oder "too lazy; didn’t read”.
Die Veranstalter der re:publica 19 erklären, was sie mit diesem Begriff meinen:
"Wir widmen uns dem Kleingedruckten. Den Fußnoten. Der Kraft der Recherche, dem Wissen und der Kontroverse. Der Notwendigkeit und Dringlichkeit, die Themen kritisch zu hinterfragen, die polarisieren, uns spalten – oder auch vereinen.
Wenn Verkürzungen zu simplen Parolen und Slogans werden, die missbraucht werden, um die Gesellschaft zu spalten und demokratische Systeme zu zerstören, müssen wir mit Wissen und Information, mit Empathie, Dialog und Solidarität dagegen halten.
Wir möchten gemeinsam mit euch aktuelle Fragestellungen und Themen der (digitalen) Gesellschaft beleuchten. Wir werden miteinander reden, diskutieren und streiten - aber mehr denn je werden wir in die Tiefe gehen, unterschiedliche Perspektiven betrachten, analysieren, reflektieren und durchdenken. Denn: Es ist komplex."