"Ermittelt gegen die Ermittler" ("לחקוראתהחוקרים") lautet der Hashtag, mit dem Israels Premierminister Benjamin Netanjahu seit dem vergangenen Donnerstag auf Twitter Stimmung gegen Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit und die Institutionen des israelischen Rechtsstaats macht. Netanjahus Gemeinde kreischte mit: "Staatsstreich, Putsch, Hexenjagd..." Nicht nur in den Echokammern des Internets, sondern auch auf der Straße äußerte sich die Wut von Demonstranten, die ihrem wankenden "König Bibi" beisprangen.

Es ist das erste Mal in der Geschichte Israels, dass ein amtierender Ministerpräsident vor einer Anklage steht. Der oberste israelische Staatsanwalt wirft Netanjahu Betrug, Untreue und Bestechlichkeit - kurz: Korruption vor. Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert sowie der ehemalige Staatspräsident Mosche Katzav wurden erst nach ihrer Amtszeit angeklagt. Beide saßen Haftstrafen ab, Olmert 16 von 27 Monaten wegen eines Korruptionsfalls aus seiner Zeit als Bürgermeister von Jerusalem und Handelsminister und Katzav fünf von sieben Jahren wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung. Wird Netanjahu verurteilt, drohen ihm in den Betrugs- und Untreuefällen bis zu drei und in einem Bestechungsfall bis zu zehn Jahre Haft.

Anklageerhebung gegen den Premier

In diesem "Fall 4000" geht es darum, dass Netanjahu dem Medienunternehmer Schaul Elowitsch und seiner 2005 privatisierten Telekommunikationsgesellschaft Bezeq (Blitz) Wettbewerbsvorteile verschafft haben soll. Im Gegenzug soll Elowitsch dafür gesorgt haben, dass sein Online-Nachrichtendienst "Walla" positiv über Netanjahu und dessen Familie berichtet.

Die Anklageerhebung gegen den Premier ist für viele Beobachter ein Beleg, dass der israelische Rechtsstaat funktioniert. Die Anhänger Netanjahus wittern angesichts des Zeitpunkts der Anklageerhebung politische Motive. Der 56-jährige Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit ist allerdings selbst in der Wolle gefärbter Likudnik. Ins Amt kam er 2013 mit der ausdrücklichen Unterstützung Netanjahus.

Die Anklage gegen Netanjahu ist derzeit beim Parlamentspräsidenten der Knesset hinterlegt. Der Premier hat nun 30 Tage oder bis zum 22. Dezember Zeit, sich von der Knesset seine Immunität bestätigen zu lassen. Andernfalls kommt es zum Prozess.

Das Parlament ist gelähmt

Eigentlich. Denn seit den Wahlen im April wurde im Parlament kein neuer Immunitätsausschuss bestimmt – weil es seither keine neue Regierung gibt. Nur dieses Komitee kann über die Immunitätsfrage befinden. Das Parlament ist gelähmt. Das droht auch den Prozess zu verzögern – um mehrere Monate bis nach einer nächsten Wahl, die immer wahrscheinlicher wird. Auch danach könnte es noch lange dauern bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung Netanjahus.

In der Knesset tickt nämlich noch eine andere Uhr: Erstmals in der 70-jährigen Geschichte des jüdischen Staats ist es nach der Parlamentswahl vom 17. September keinem vom Staatspräsidenten beauftragten Politiker geglückt, in der Knesset eine Mehrheit zu organisieren und eine Regierung zu bilden. Auch nach den zweiten Wahlen in diesem Jahr scheiterten zunächst Dauer-Premierminister Netanjahu vom rechten Likud und danach sein Herausforderer Benny Gantz vom Mitte-Bündnis Kachol Lavan (Blau-Weiß) mit der Regierungsbildung. Gantz und Blau-Weiß sind zu einer großen Koalition mit dem Likud bereit – aber nur ohne Netanjahu, deswegen die Pattsituation. In einer dritten Runde kann jetzt bis zum 11. Dezember jeder der 120 Knesset-Abgeordneten versuchen, eine Regierung zu bilden. Gelingt das nicht, kommt es im März zu den dritten Parlamentswahlen innerhalb von zwölf Monaten. Auch das gab es noch nie.

Nur das Amt bietet Schutz vor dem Prozess

Oren Gazal-Ayal (49) ist Dekan der juristischen Fakultät Haifa und einer der profiliertesten Experten zum israelischen Rechtssystem. Er betont, dass nach er Verfassung, dem israelischen "Grundgesetz", ein Premierminister erst nach einem rechtskräftigen Urteil zurücktreten muss. Netanjahu könne auch als amtierender Premier der Prozess gemacht werden. Seine Ministerämter (Netanjahu ist auch Landwirtschafts-, Gesundheits-, Sozial- und Diasporaminister) müsse er als Angeklagter aber sofort aufgeben. Ob er sich nach Neuwahlen unter diesen Bedingungen zur Wiederwahl stellen könne, sei juristisch umstritten, so Gazal-Ayal.

Es ist eine Zeit vieler "Noch nie's" in Israel. Der Populist Netanjahu klammert sich an sein Amt, weil nur dieses ihm Schutz vor dem Prozess bietet. Mit seinem Gegen-Korruptionsvorwurf in Richtung Justiz und Polizei beweist Netanjahu Skrupellosigkeit und seine Bereitschaft, demokratische Institutionen zu beschädigen, um an der Macht zu bleiben. Das Land ist tief gespalten. Die Hälfte der Israelis wünscht sich, dass Netanjahu nach zehn Jahren Amtszeit zurücktritt.

Lange stand seine Partei geschlossen hinter dem trickreichen Garanten der Macht. Nun beginnt es im Likud zu gären. Netanjahus Parteirivale Gideon Sa'ar hat sich aus der Deckung gewagt und schnellstmögliche Vorwahlen um den Parteivorsitz gefordert. Denn mit einem anderen Likud-Chef wäre der Weg frei für eine "Regierung der nationalen Einheit".

Netanjahu spielt auf Zeit

Sa'ar (53) ist deutlich jünger als Netanjahu (70). Der smarte Jurist ist in der Partei beliebt, er war bereits Bildungs- und Innenminister. Bei parteiinternen Abstimmungen hat er Netanjahu schon mehrfach hinter sich gelassen. Sa'ar gilt als liberal-konservativ. In seiner Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung tickt er kaum anders als Netanjahu. Zu seiner Popularität trägt bei, dass Sa'ar mit der bekannten Fernsehjournalistin Geula Even verheiratet ist, die lange die Hauptnachrichten im israelischen Fernsehen moderierte. Als Vorbild nennt Sa'ar den israelischen Staatsgründer David Ben-Gurion. Zu diesem hat er eine besondere Beziehung: Sa'ars Vater war Leibarzt des legendären Politikers.

Netanjahu hat die parteiinterne Herausforderung angenommen, spielt aber auf Zeit: Er will nicht sofort, sondern erst in sechs Wochen über den Vorsitz abstimmen lassen - das sei "technisch" gar nicht anders machbar. In Wirklichkeit dürfte der wankende Premier darauf setzen, dass die Dinge bis dahin wieder mehr in seine Richtung laufen.

Der 11. Dezember ist dann jedenfalls vorbei, heißt: Es wird wieder Wahlen geben. Und wenig spricht dafür, dass die im März 2020 viel anders ausgehen werden als die beiden letzten.