Auch vergangenen Montag sind bei sogenannten "Spaziergängen" in zahlreichen deutschen Städten wieder Corona-Leugner und Impfskeptiker auf die Straße gegangen, teilweise kam es bei den Protesten auch zu Gewalt. Wie verändert sich hier gerade die Art und Weise der Corona-Proteste?

Pöhlmann: Die ursprüngliche "Querdenker"-Initiative von Michael Ballweg ist in die Krise geraten. Dafür ist die Zahl der sogenannten Spaziergänge gestiegen. An über 250 Orten in Bayern wird nun regelmäßig dazu eingeladen. Die Hoffnung der Organisatoren ist, dass sich mehr Menschen anschließen, wenn die Demonstrationen auch in kleinste Städte kommen. Die Spaziergänge auf viele kleine Orte zu verteilen ist auch eine Strategie, um die Polizei lahmzulegen.

"Es gibt Rechtsextreme, die die Proteste gezielt für eigene Zwecke nutzen."

Wer sind die Menschen, die an den Spaziergängen teilnehmen?

Pöhlmann: Die Szene ist sehr heterogen und auch örtlich unterschiedlich. Manche Menschen haben einfach Angst vor der Impfung und vor einer Impfpflicht. Es gibt Wissenschaftsskeptiker, Verschwörungsgläubige, Menschen mit Bezug zur Esoterik, die das Narrativ einer "Corona-Diktatur" teilen und sehr staatsfern sind. Und es gibt auch Rechtsextreme, die die Proteste gezielt für eigene Zwecke nutzen, vor allem in Ostdeutschland.

Wie zeigt sich die Vernetzung von Rechtsextremen mit den Corona-Protesten?

Pöhlmann: Bei einigen Spaziergängen sind beispielsweise Vertreter der rechtsextremen Partei "Der Dritte Weg" vorneweg gelaufen oder Rechtsextreme, die man in den neunziger Jahren zuletzt gesehen hat. Die Einladungen zu den Spaziergängen werden auch in rechtsesoterischen Online-Gruppen geteilt, etwa von der Anastasia-Bewegung oder der Freilerner-Bewegung. Sie versuchen, lokale Vernetzungen voranzutreiben und rufen zum Widerstand gegen das System auf.

"Die Isolation durch Kontaktbeschränkungen und die Existenzsorgen haben bei vielen Menschen zu einem extremen Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht geführt."

Wo kommt dieser Hass auf "das System" her?

Pöhlmann: Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juni 2021 vertraute ein Drittel der Befragten eher auf die eigenen Gefühle als auf die Meinung von Experten. Sicherlich gab es zu Beginn der Pandemie auch widersprüchliche Aussagen von Wissenschaftlern, aber so funktioniert Wissenschaft eben! Manche Menschen haben aber das Gefühl, dass Medien, Politik und Wissenschaft "unter einer Decke" stecken und dass sie niemandem mehr trauen können. Die Isolation durch Kontaktbeschränkungen und die Existenzsorgen haben bei vielen Menschen zu einem extremen Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht geführt. Das schreit dann nach Bewältigungsstrategien.

Sie sind Beauftragter der Bayerischen Landeskirche für Weltanschauungsfragen. Inwieweit hängen die Demonstranten einer eigenen Weltanschauung an?

Pöhlmann: Es herrscht ein prinzipielles Misstrauen in der Szene, das als sinnstiftend empfunden wird. Es geht auch viel um Komplexitätsreduktion, also um die Suche nach einfachen Antworten auf Fragen wie "Wer ist schuld?" Da werden dann einzelne Personen wie Bill Gates oder George Soros ebenso genannt wie "die Pharmaindustrie" oder "die Rothschilds", ein bekannter antisemitischer Reflex. Solche Feindbilder entlasten auch. Ich spreche am Liebsten von Verschwörungsglauben, weil es sich bei manchen um ein geschlossenes Denk- und Glaubenssystem handelt.

"Insgesamt glaube ich nicht, dass unsere Demokratie gefährdet ist."

Erwarten Sie, dass es zu einer weiteren Radikalisierung von Corona-Leugnern kommen wird?

Pöhlmann: In Einzelfällen ja. Wir haben schon verschiedene Eskalationsstufen gesehen, etwa Bilder von Politikern in Sträflingskleidung, die auf Demonstrationen gezeigt wurden, Aufmärsche vor Privathäusern von Politikern, Todesdrohungen, bis hin zur Ermordung eines Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein. Aber insgesamt glaube ich nicht, dass unsere Demokratie gefährdet ist. Es ist eine lautstarke Minderheit, aber immer noch eine Minderheit, die sich hier über verschiedene Formen wie die Spaziergänge Gehör zu verschaffen versucht.

Wenn ich die Corona-Maßnahmen als ungerecht empfinde und dagegen demonstrieren möchte, kann ich das überhaupt noch tun, ohne mich von rechten Tendenzen vereinnahmen zu lassen?

Pöhlmann: Kritik ist wichtig und das Demonstrationsrecht ist es auch - aber nicht, wenn es zu Hass und Gewalt kommt. Ich plädiere für körperliche und geistige Abstandsregeln: Wenn auf einer Demonstration Transparente der Partei "Dritter Weg" auftauchen, ist eine klare Distanzierung notwendig, dann sollte man da nicht mitlaufen.

Was kann die Mehrheit gegen die radikalen Corona-Leugner tun?

Pöhlmann: Es gibt mittlerweile schon Gegendemonstrationen, auch klare kritische Stellungnahmen wie die vom Bündnis "München ist bunt", das sich von rechten und Verschwörungsideologien distanziert und sich für Zusammenhalt und Demokratie einsetzt. Ein gutes Beispiel sind auch die Friedensgebete des Schweinfurter Dekans Oliver Bruckmann, der den Verschwörungsideologen nicht das Feld überlassen will.

"Die Kirche sollte Orientierung geben, wie die Menschen mit solchen Krisen umgehen können."

Was kann die Kirche noch gegen diese Tendenzen tun?

Pöhlmann: Es ist wichtig, dass die Kirche ihre Stimme erhebt. Die Kommunikation des Evangeliums heißt ja, für Frieden einzutreten, für Gottes- und Nächstenliebe. Es braucht jetzt vertrauensbildende Maßnahmen. Die Kirche sollte Orientierung geben, wie die Menschen mit solchen Krisen umgehen können. Sie kann Seelsorge, Beistand, Beratung bieten. Ein Eintreten für Solidarität und gegen die Tendenz der Entsolidarisierung finde ich ganz wichtig.

Was raten Sie Menschen, deren Angehörige oder Freunde in Verschwörungsglauben abdriften?

Pöhlmann: Der Druck für Angehörige von Corona-Leugnern ist immens, es kommt zu Verwerfungen in den Familien, zu Kontaktabbrüchen. Man sollte trotzdem versuchen, im Gespräch zu bleiben - wenn das soziale Umfeld wegbricht, können diese Menschen mit niemandem mehr reden und suchen sich umso mehr nur noch Gruppen, die ihre Ansichten teilen. Teilweise ist es aber sicherlich schwierig, die Menschen noch zu erreichen. Es ist auch wichtig, rote Linien zu ziehen, etwa, wenn es um Antisemitismus oder Gewalt geht. Angehörige können sich Hilfe holen bei kirchlichen Fachstellen für Weltanschauungsfragen oder zu Selbsthilfegruppen gehen, die ihnen zeigen: Du bist nicht allein, andere sind auch betroffen.

"Es ist wichtig, rote Linien zu ziehen, etwa, wenn es um Antisemitismus oder Gewalt geht."

Wie wird sich diese Protestszene in Zukunft entwickeln?

Pöhlmann: Verschwörungstheoretiker und neurechte Gruppen gab es ja bereits vor den Corona-Protesten. Die suchen sich immer neue Themen, auf die sie aufspringen können. Beim Klimaschutz oder beim Ökolandbau ist das teilweise schon der Fall. Da versuchen sie unter dem Deckmantel eines sogenannten "Heimatschutzes", diese Bewegungen für ihre Zwecke zu vereinnahmen.