Für unseren Blick auf die Welt gilt der Satz, der mal dem Talmud, mal der Schriftstellerin Anaïs Nin zugeschrieben wird: "Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sind."

Unsere Wahrnehmung ist geprägt durch unsere persönliche Erfahrung. Das bedeutet, dass wir alle blinde Flecken haben. Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung etwa fehlt häufig der Blick für all die Fallen im Alltag, mit denen Menschen mit Behinderung zu kämpfen haben. Flapsig gesagt: Wir haben das einfach nicht auf dem Schirm.

Der heutige Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

Darauf aufmerksam machen will der heutige "Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung", der seit 30 Jahren begangen wird und an diesem 5. Mai unter dem Motto steht: "Tempo machen für Inklusion - barrierefrei zum Ziel!"

Ein wichtiges Anliegen, denn: Keine Barrierefreiheit = keine Inklusion. Eigentlich einleuchtend, dennoch machen wir uns diese Wahrheit viel zu selten bewusst. Bis etwas unsere Perspektive ganz leicht verändert.

Bei mir war das im vorigen Frühjahr die Reise mit einer Freundin, die wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr laufen konnte und im Rollstuhl saß. Aber noch einmal die Nordsee sehen wollte, über 1000 Kilometer entfernt, am anderen Ende des Landes. Mit dem Auto wäre es zu strapaziös gewesen, also haben wir den Zug genommen und uns der Deutschen Bahn anvertraut.

Im Rollstuhl unterwegs mit der Bahn

Das klappte zwar recht gut. An den Bahnhöfen waren die DB-Mitarbeiter*innen mit ihren mobilen Hubgeräten zur Stelle, um beim Ein- und Aussteigen zu helfen. Die Rollstuhlplätze waren in der 1. Klasse, wir hatten nur die 2. gebucht, kein Problem. Vor Ort nutzten wir Linienbusse, bei jedem Ausstieg gab es einen hilfsbereiten Fahrgast, der aus dem Bus sprang, um für uns an der Tür die Rampe auszuklappen.

Doch nicht jeder Bus war mit einer Rampe ausgestattet, den Zugang zum Lieblingsladen versperrten Treppenstufen. Und dann war da noch die Sache am Strand. Bei einem Ausflug musste die Freundin dringend zur Toilette. Es gab zwar ein Gasthaus, auch eine öffentliche Toilette. Doch die war zu schmal für den Rollstuhl. Kein Taxi, kein Bus weit und breit. Das nächste rollstuhltaugliche WC vier Kilometer entfernt, in einem Museum. Im Affenzahn sind wir dorthin gerollert, getrieben von Panik und Scham.

Barrieren verhindern die Teilhabe am Alltag

So etwas darf niemandem zugemutet werden. So etwas verhindert, dass Menschen mit Behinderung am Alltag teilhaben können. Barrierefreiheit sei ein Menschenrecht, so argumentiert die Behindertenbewegung.

Und es stimmt ja. Toiletten für Rollstuhlfahrer*innen müssen eine Selbstverständlichkeit, Treppen und andere Barrieren eine Bausünde von vorgestern sein. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, Menschen mit einer Behinderung erleben das jeden Tag.

Kaputte Fahrstühle, hohe Bordsteine, zugeparkte Wege

Da ist der Fahrstuhl in der U-Bahnstation, der nicht funktioniert. Da sind zu hohe Bordsteine, zugeparkte Gehwege, eine schlechte Beschilderung. Da ist das allein aus optischen Gründen verlegte Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone, eine Tortur für Menschen im Rollstuhl und für solche mit einem Rollator ("Barrieren im Alltag" genauer analysiert hat die "Aktion Mensch" in einer aktuellen Umfrage).

Dahinter steckt vermutlich keine böse Absicht. Sondern vor allem (was die Sache allerdings nicht besser macht): Gedankenlosigkeit. Unflexible Bürokratie, mangelnde Finanzierung.

Genau deshalb ist der heutige Protesttag so wichtig. Weil er Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung die Augen öffnet für Probleme, die sie oft nicht in ihrem Blickfeld haben. Die zu beheben aber für Menschen mit Behinderung einen enormen Unterschied macht – den zwischen Ausgrenzung und Teilhabe.