Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) und die Beiräte Menschen mit Behinderung wollen, dass sich das Leben von Menschen mit Behinderung verbessert. Deswegen haben sie auf ihrer Webseite verschiedene Wahlforderungen gesammelt. Es geht neben verbesserter Lebensqualität auch um mehr Teilhabe und Mitbestimmung. Die Positionen entstanden in Arbeitsgruppen der beiden Beiräte des BeB.

Im Interview spricht Geschäftsführerin Barbara Heuerding über den Koalitionsvertrag und ob die Forderungen, die der BeB zur Bundestagswahl 2021 gestellt hat, sich darin wiederfinden.

Wie zufrieden sind Sie allgemein mit dem Koalitionsvertrag in Bezug auf Ihre Forderungen?

Der Koalitionsvertrag enthält eine Reihe von Forderungen, die der BeB auch in den Wahlkampf und in die Gespräche mit Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen eingebracht hat. Unsere politischen Bemühungen für mehr Teilhabe und Inklusion haben also bei mehreren Themen gefruchtet. Dazu gehören unter anderem der geplante bundesweite Ausbau von Medizinischen Zentren für Menschen mit geistiger oder schwer mehrfacher Behinderung sowie der Sozialpädiatrischen Zentren.

Wir freuen uns auch über die geplanten Maßnahmen zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischer Erkrankung. Wir sehen aber auch: die Teilhabepolitik ist im Koalitionsvertrag ein “Sonderthema”.

Anders als es die UN-BRK fordert sind Menschen mit Behinderung und ihre Belange noch nicht in allen Themenfeldern notwendig benannt. Da bleibt noch was zu tun.

Der Koalitionsvertrag legt einen Schwerpunkt auf die Arbeitsmarktintegration und dass Arbeitgeber eine einheitliche Ansprechstelle bekommen. Kann das helfen?

Der BeB begrüßt die geforderte Erhöhung der Ausgleichsabgabe durch Einführung der vierten Stufe für die Arbeitgeber, die keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen. In Verbindung mit der Weiterentwicklung der einheitlichen Ansprechstellen sowie der angekündigten “unkomplizierten, schnellen und digitalen Verwaltung” kann so die Öffnung des inklusiven Arbeitsmarktes etwas befördert werden. Die einheitliche Ansprechstelle und die angekündigte “unkomplizierte, schnelle und digitale Verwaltung” wären Bausteine, mit denen die Öffnung des inklusiven Arbeitsmarktes zumindest unterstützt werden kann. Diese werden aber nicht ausreichen. Für den BeB ist maßgeblich, dass seine Forderung nach der Stärkung und dem Ausbau der Budgets für Ausbildung und Arbeit in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden haben. Nach unserem Kenntnisstand entscheiden sich Arbeitgeber vor allem dann einen Menschen mit Behinderung einzustellen, wenn die notwendige Unterstützung und Begleitung durch eine soziale Einrichtung, wie zum Beispiel ein Berufsbildungswerk oder eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, sichergestellt ist. Bezogen auf die verlässliche und langfristig planbare Gewährung der Assistenz in ausreichendem Umfang gibt es aber noch immer große Unsicherheiten und Ermessensspielräume. Und hohe bürokratische Hürden.

Diese Unsicherheit und die Hürden müssen beseitigt werden; nur dann kann es gelingen mehr Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.

 

Teilhabe wird öfter im Koalitionsvertrag genannt. Reichen die Maßnahmen, um Inklusion und Teilhabe nachhaltig zu verbessern?

Der BeB befürwortet ausdrücklich die Pläne der Regierung, die Möglichkeiten zur Teilhabe und politischen Partizipation von Menschen mit Behinderung an wichtigen Vorhaben auf Bundesebene zu verbessern. Die Erhöhung und Verstetigung der Mittel des Partizipationsfonds zur Stärkung der Selbstvertretung sind hierzu ein wichtiges Mittel, ebenso wie die Fortsetzung der Förderung der politischen Bildung und Demokratieförderung und die Etablierung neuer Formen des Bürgerdialogs, die notwendig barrierefrei auszugestalten sind. Viele Bereiche, in denen noch viel Nachbesserungsbedarf gibt, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Mitbürger*innen mit Behinderung zu ermöglichen, sind aber nicht oder nur sehr begrenzt ausbuchstabiert.

Wir hätten uns zum Beispiel gewünscht, dass der Schwerpunkt der Digitalisierung auch bezogen auf Menschen mit Behinderung konkretisiert worden wäre.

Die Pandemie hat mehr als deutlich gezeigt, dass Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung häufig die notwendige digitale Ausstattung fehlt. Gerade wegen der Anforderungen an die Barrierefreiheit braucht es hier mehr finanzielle Unterstützung. Darüber hinaus müssen Menschen mit Behinderung einen Anspruch haben, Assistenzleistungen zur Erlangung von mehr Medienkompetenz zu erhalten, damit sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und online Zugang zu Leistungen und ihren Familien und Freunden haben. Und es ist eben darauf zu achten, dass Barrierefreiheit ein durchgängiges Kriterium der digitalen Weiterentwicklung ist, damit Zugänglichkeit sichergestellt ist und nicht im Nachhinein nachgebessert wird und Flickschusterei betrieben wird.

Ein anderer Bereich, in dem ein Anschub nötig wäre, ist die inklusive Bildung. Im Bereich der schulischen Bildung sind hier vor allem die Länder in der Pflicht. Wir wünschen uns aber mehr Unterstützung durch den Bund und klare und verbindliche Zielgrößen auch im Bereich der außerschulischen Bildung, der inklusiven Bildung in Kitas, an Berufsschulen, an Hochschulen und auch in Fort- und Weiterbildung und der allgemeinen Erwachsenenbildung. Inklusive qualitativ hochwertige Bildung ist nicht nur die maßgebliche Grundlage für den Übergang in Ausbildung und Beruf, sondern auch für die langfristige soziale Sicherung und gleichberechtigte Teilhabe.

Die Ampel-Koalition schreibt, "Wir prüfen die Regelbedarfsstufe 1 in besonderen Wohnformen." Ist diese Prüfung in Ihrem Sinne oder geht das nicht weit genug?

Die Regelbedarfsstufe 2 hat in den vergangenen Jahren zu erheblicher Kritik auch der Beiräte des BeB geführt. In vielen Gesprächen und Stellungnahmen wurde dies bisher erfolglos angemahnt. Wir freuen uns, dass nun Bewegung in die Angelegenheit gekommen ist und die Regelbedarfsstufe 1 geprüft wird. Wir sind sehr darauf gespannt, wie das Bürger*innegeld ausgestaltet wird. Behinderung erhöht in unserer Gesellschaft nach wie vor deutlich das Armutsrisiko. Darum sind viele Menschen mit Behinderung von der Grundsicherung abhängig. Wir setzen deshalb viel Hoffnung in eine bedarfsgerechte Ausgestaltung und bessere Zugänglichkeit des Bürgergelds, damit sich die
Lebenssituation der darauf angewiesenen Menschen verbessert.

Wichtig für Menschen mit Behinderung sind auch qualifizierter Fachkräfte. Sie haben vor der Wahl eine kostenfreie Ausbildung für Fachkräfte gefordert. Im Koalitionsvertrag findet sich der Satz "Dort, wo Pflegefachkräfte in Ausbildung oder Studium bisher keine Ausbildungsvergütung erhalten, schließen wir Regelungslücken." Ist das im Sinne Ihrer Forderungen?

Wir freuen uns, dass deutlich mehr für die Gewinnung von Pflegefachkräften getan werden soll. In der Eingliederungshilfe sind aber häufig Heilerziehungspfleger*innen oder Heilpädagog*innen beschäftigt, die eine spezifischen Ausbildung erhalten, um Menschen mit Behinderung assistieren zu können. Hier gibt es einen “blind spot” im Koalitionsvertrag. Aus der Praxis der Einrichtungen wird uns berichtet, dass die Corona-Pandemie den Fachkräftemangel bei diesen Berufsgruppen deutlich verschärft hat. Daher appellieren wir an die Bundesregierung sich auch für diese Berufsgruppen zu engagieren, damit Menschen mit Behinderung zukünftig genügend qualifizierte Assistent*innen zur
Verfügung stehen.

Barrierefreiheit als Begriff findet sich oft im Koalitionsvertrag. Reichen die Maßnahmen weit genug?

Der BeB unterstützt das im Koalitionsvertrag benannte, umfassende und uneingeschränkte Ziel der Barrierefreiheit in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens sowie die in Aussicht gestellten diesbezüglichen Gesetzesreformen und die notwendige finanzielle Hinterlegung im Bundesprogramm Barrierefreiheit.

Die umfassende Barrierefreiheit, sei es in Bahn und ÖPNV, in der digitalen Welt oder bei allen Dienstleistungen im privaten oder öffentlichen Sektor sind dringend notwendig und lange überfällig.

Um diese Ungleichbehandlung zu beseitigen werden und umfassende Barrierefreiheit zu erreichen, werden finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden müssen.

Reichen die Maßnahmen für ein inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen aus?

In der letzten Legislaturperiode hat der BeB immer wieder in Pressemitteilungen, Stellungnahmen und in der Kommunikation mit den gesundheitspolitischen Sprecherinnen auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Medizinischen Zentren für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung sowie die Sozialpädiatrischen Zentren auszubauen. Daher begrüßen wir ausdrücklich die Aufnahme dieser Forderung in den Koalitionsvertrag. Wir sind froh, dass wir damit Gehör gefunden haben. Ebenso unterstützen wir einen Aktionsplan für ein inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen. Hier gibt es viel zu tun und der BeB kann seine Erfahrungen mit Aktionsplänen anbieten. Bis es wirklich ein barrierefreies Gesundheitswesen gibt sind erhebliche Investitionen nötig. Dies sieht man deutlich daran, dass nur rund ein Fünftel der fast 102.000 Arztpraxen in der ambulanten Versorgung für mobilitätseingeschränkte Menschen barrierefrei zugänglich - noch weniger verfügen über barrierefreie Sanitäranlagen oder höhenverstellbare Einrichtungen.

Wie finden Sie die neuen Maßnahmen für leichte Sprache und Gebärdensprache?

Barrierefreie Information ist eine zentrale Voraussetzung für gleichberechtigte Partizipation. In Stellungnahmen, Gesprächen mit den Ministerien und mit seinen Projekten hat der BeB und seine Beiräte mit Nachdruck auf entsprechende Bedarfe hingewiesen. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Einrichtung des Bundeskompetenzzentrums Leichte Sprache/ Gebärdensprache und die angekündigte umfängliche barrierefreie Gestaltung von Informationen und Veranstaltungen der Bundesbehörden.

Wir erwarten, dass das Bundeskompetenzzentrum wichtige Impulse gibt zur Realisierung der weitergehenden Forderungen des BeB bezogen auf eine konsequente Etablierung der Leichten Sprache und die Sicherstellung tagesaktueller Informationen in Leichter Sprache in Mainstreamformaten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Die Regierung will bezahlbaren, klimaneutralen und barrierearmen Wohnraum schaffen. Dabei sollen lebendige öffentliche Räume im Wohnumfeld entstehen. Welche Bedeutung hat dies für die Behindertenhilfe?

Bezahlbarer und barrierefreier Wohnraum ist gerade in Ballungsräumen knapp. Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen sind besonders benachteiligt, denn nur rund 2% der Wohnungen oder Einfamilienhäuser in Deutschland erfüllen die nötigen Voraussetzungen von Barrierefreiheit. Daher brauchen wir dringend mehr barrierefreien Wohnraum, der auch für Menschen mit Behinderung bezahlbar ist, denn die Mieten liegen aufgrund der Kosten für die Barrierefreiheit häufig im oberen Preissegment. Für umfassende Inklusion ist der Sozialraum maßgeblich. Der BeB hat vielfältige Ideen zur Schaffung von inklusiven Wohnraum für Menschen mit und ohne Behinderung gemacht, damit Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam zusammenleben und wohnen. Dazu brauchen wir eine Wohngemeinnützigkeit, damit Einrichtungen und Dienste neue inklusive Wohnformen im Quartier etablieren. Außerdem müssen soziale Angebote bei der Bauplanung gleich mitgedacht und berücksichtigt werden.

Schließlich müssen Landes- und Bundesbauprogramme die Schaffung inklusiver Wohnformen und die Belange der Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung zum Ziel haben.