Entschuldigung – wer sind Sie? In diesem Moment haben Sie das Sonntagsblatt vor sich liegen, gedruckt oder digital. So viel ist klar. Aber sonst? Womöglich haben Sie es sich gemütlich gemacht und nippen an einer dampfende Tasse Tee. Oder Sie sitzen gerade im Zug, auf dem Weg zur Familie. Vielleicht liegen Sie auch schon im Bett, mit angeknipster Nachttischlampe, und lesen vor dem Einschlafen noch ein paar Zeilen.
Figuren der Weihnachtsgeschichte: Wer sind Sie?
Wer sind Sie? Die Frage ist nicht unwichtig, denn bald ist Weihnachten und dann werden Sie womöglich in einer Kirche oder anderswo die berühmten Zeilen des Lukasevangeliums hören, die von der Geburt Jesu berichten. Und wie jedes Jahr wird das Evangelium einsetzen mit den Worten "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging...". Wieder nimmt die Geschichte Jesu Christi ihren Lauf. Mit der Geburt setzt alles ein, könnte man meinen. Aber weit gefehlt. Das ist nicht der Anfang, zumindest nicht der des Lukasevangeliums. Der Evangelist lässt seine Schilderungen nicht mit der Geburt beginnen, auch nicht mit den vorangehenden Ankündigungen durch den Engel Gabriel, sondern mit einer Art Vorwort. "Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind…", heißt es ganz am Anfang des Evangeliums. Und weiter: "So habe auch ich’s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben."
Also: Wer sind Sie? Etwa Theophilus, für den die Worte des Lukas bestimmt sind? Nein? Was geht Sie dann die Geburt Jesu Christi an? Mit Verlaub, bei anderen Geburten gucken Sie auch nicht zu. Offensichtlich ist bei dieser etwas anders. Während Geburten normalerweise nicht vor großer Öffentlichkeit stattfinden, herrscht in und um die Krippe ein ständiges Kommen und Gehen. Die verschiedensten Personen haben ein Interesse an dem Baby aus Bethlehem. Vielleicht hilft bei der Frage, wer Sie sind, ein Blick darauf, wer die eigentlich sind.
Team 1: Die Mächtigen
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in eine Buchhandlung auf der Suche nach einem aktuellen religiösen Buch. Vielleicht suchen Sie einen spirituellen Wegbegleiter für die dunkle Jahreszeit. Sie nehmen einen der vielen Ratgeber aus dem Regal, blättern durch die Seiten, lesen etwas von gelingender Gottesbeziehung, von der heilsamen Kraft des Gebets und von biblischen Impulsen im Alltag. Plötzlich ist da ein Foto von Olaf Scholz. Verdutzt runzeln Sie die Stirn und reiben sich ungläubig die Augen. Was hat der da verloren? Nicht weniger irritieren sollten eigentlich die Vertreter des römischen Machtapparats, deren Namen die heimelige Atmosphäre der Weihnachtsgeschichte im Lukas- und Matthäusevangelium immer wieder gewaltsam durchbrechen. Quirinius, Statthalter in Syrien. Der von Rom eingesetzte König Herodes. Archelaus, sein Nachfolger. Kaiser Augustus. Sie alle werden nicht unbedingt gebraucht, um die Geschichte von Gottessohn im Stall zu erzählen. Trotzdem stehen sie da. Wenn heute jemand ein erbauliches Buch schreiben würde, er würde auf politische Randnotizen verzichten. Vielleicht liest man genau darum von der Machtelite: Weil die Bibel nicht einfach ein erbauliches Buch ist. Kein Feelgood, kein Wellness. Selbst im Wunderbarsten, in der Menschwerdung: schnöde Machtpolitik. Sie gehört wohl zum Menschsein. Nicht nur auf den Bühnen der Weltpolitik, sondern tief in jedem Einzelnen. Finden Sie sich wieder? Noch nicht? Vielleicht hier:
Team 2: Die Himmlischen
Das Gegenstück zur Macht auf Erden bilden die himmlischen Mächte. Nicht als Gegenspieler, sondern als Überwinder. Voller Hoffnung kann darum Maria schon vor der Geburt ihres Sohnes in fast umstürzlerischem Pathos sprechen: "Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen." In Zeiten von Klimakrise, Pandemie und weltpolitischer Instabilität ist Hoffnung dagegen ein seltenes Gut. Woher auch nehmen? Vielleicht so wie die Gottesmutter: von einem Engel. Als Gabriel wird dieser im Lukasevangelium vorgestellt, zu Deutsch heißt der Name so viel wie "meine Stärke ist Gott". Gottvertrauen im Angesicht des Unglaublichen bringt ein Engel noch an einer weiteren Stelle: Die Hirten auf dem Felde werden mit seinem berühmten "Fürchtet euch nicht" aus ihrem Alltag gerissen und mit dem Einbrechen des Göttlichen in ihr Leben konfrontiert. Zum Fürchten ist so etwas auch heute noch: Es lässt sich problemlos ein ganzes Leben damit verbringen, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aufstehen, Zähne putzen, die Lebensbilanz polieren, Zähne putzen, schlafen. Jeder neue Tag als Versuch, den persönlichen Saldo um ein paar Cent zu erhöhen. Und dann gibt es immer wieder diese Momente, in denen ein Speiche aus dem rollenden Rad bricht und alles in Schlingern gerät. Der Tod eines nahen Menschen, Krankheit, aber auch: Unverhofftes Glück. Und Hoffnung wider alle Wahrscheinlichkeit. Die Bibel gibt solchen Momenten, in denen das Irdische aufbricht, ein Gesicht und nennt sie Engel. Was würde fehlen, wenn man beschlossen hätte, der Weihnachtgeschichte einen realistischeren Anstrich zu geben und die Engel wegzulassen? Vielleicht gehen Sie der Antwort, die Sie spontan auf diese Frage geben würden, einen Moment nach. Ansonsten geht es jetzt weiter mit
Team 3: Die Verwandten
In Schillers Drama "Maria Stuart" trifft die gleichnamige schottische Königin im Showdown auf die mit ihr verwandte englische Königin Elisabeth I., ihre Widersacherin und Erbfeindin. Das Streitgespräch, gespickt mit gegenseitigen Vorwürfen, entwickelt eine derartige Dramatik, dass damit das Schicksal der Schottin besiegelt wird: Das Stück endet mit ihrer Hinrichtung. Wie anders vollzieht sich da das Treffen der biblischen Maria und ihrer Verwandten Elisabeth im ersten Kapitel des Lukasevangeliums. Nichts als Freude. Nichts als Wohlwollen, als Elisabeth spricht: "Gepriesen bist du unter den Frauen." Die liebe Verwandtschaft. Beide sind schwanger und beide verbindet, dass der Engel Gabriel die Geburt der Söhne den Umstände zum Trotz verkündet hat (die Umstände: Elisabeth und ihr Mann, der Priester Zacharias, sind schlichtweg zu alt und zwischen Maria und ihrem Verlobten Josef mangelt es bisher an entsprechender körperlicher Verbindung). Es mag theologische Gründe geben, warum der Evangelist Lukas dieser Vorgeschichte so viele Zeilen widmet. Was aber definitiv der Fall ist: In Grundschulklassen ist das hüpfende Kind in Elisabeths Bauch der Renner im Religionsunterricht. Ohne diese liebevolle Episode aus den judäischen Bergen wäre die Weihnachtsgeschichte womöglich lebloser, lebensferner. Bleibt die Frage nach Ihren Verwandtschaftsverhältnissen: Geht es da eher zu wie bei Tudors oder doch so einmütig wie im Neuen Testament? Vielleicht lassen Sie sich dieses Jahr besonders vom ersten Kapitel des Lukasevangeliums ansprechen – und schwelgen im Magnificat, der Antwort Mariens auf Elisabeths frühes Lob auf die werdende Mutter. Vorschusslorbeeren verteilten auch schon diese hier:
Team 4: Die Ahnungsvollen
Im Deutschen ist seit einiger Zeit ein Sprachbild geläufig, das aus dem Russischen stammt: Der "Elefant im Raum" beschreibt eine Begebenheit, die im Raum steht und von der alle wissen, die aber niemand klar ausspricht. So ein Elefant passt anscheinend auch in einen Stall. Beziehungsweise sind es sogar mehrere Schwergewichte: Hosea, Micha, Jesaja, Jeremia. Die Propheten der Hebräischen Bibel haben viele Jahrhunderte vor Jesu Geburt das Kommen eines Messias, eines Gesalbten, vorhergesagt und herbeigesehnt. Ihre Worte haben Gewicht und man darf davon ausgehen, dass sie den Menschen Palästinas zu Beginn unserer Zeitrechnung nicht unbekannt waren. Berühmt ist etwa das Micha-Zitat bei Matthäus: "Und du, Bethlehem, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll." Wenn nun dieses Kind der Messias ist, dann ist sein Schicksal und mit ihm das der Menschheit vom ersten Schrei an besiegelt. Denn ein Messias ist nicht nur ein König, ein Friedefürst. Er bringt nicht nur Licht und Heiterkeit, sondern (Elefant!) mit ihm beginnt die Endzeit. Die Zwischenrufe der Propheten erinnern daran, dass es an Weihnachten nicht allein um Glühweinduft geht, sonders ums Ganze. Um Leben und Sterben. Um Vergehen und Weiterleben. Um das Woher und das Wohin der Menschheit. Ein existenzielles Drama. Und wo sehen Sie Ihren Platz darin? Das fragen sich womöglich auch diese Gestalten:
Team 5: Die Eigenartigen
Es ist tatsächlich eigenartig, dass das griechische Wort, das Matthäus verwendet, um diesen Personenkreis zu beschreiben, kaum ins Deutsche übersetzt werden kann. "Magoi" steht dort. Anzahl unbekannt. Ob es nun Magier, Weise, Sterndeuter oder drei (oder mehr) heilige (oder unheilige) Könige sind, es bleibt verborgen. Sie stehen für die, die nie dazugehört haben. Die insofern alles falsch gemacht haben, als sie sich definitiv nicht zum erwählten Gottesvolk gezählt hätten. Und doch sind gerade diese Fremden es, die Jesus als Christus die Ehre erweisen. Wer wären sie heute? Wählen Sie Personen, die Ihnen und Ihrer Art zu denken, zu fühlen und zu glauben völlig fremd sind: Vielleicht sind es muslimische Geflüchtete, vielleicht sogenannte Querdenker, Greta Thunberg, Ostdeutsche oder der Papst. Mit dem Kniefall der jeweils "Andersartigen" vor der Krippe zeigt sich: Wer vor Gott dazugehört und wer nicht, ist längst nicht ausgemacht. Vielleicht lehrt das Demut. Falls nicht, inspiriert Sie womöglich
Team 6: Die Nahen
Jetzt wird es gemütlich. Wenn es in der Bundesrepublik wirklich so etwas wie gelingende Ökumene gibt, dann findet sie unterm Christbaum statt. Auf die Krippe mit Josef, Maria und dem Jesuskind können sich alle einigen. Die biologische Frage nach dem Erzeuger wird ausgeklammert, die göttliche Vaterschaft tritt für einen Moment in den Hintergrund. Wem geht nicht das Herz auf beim Anblick dieser innig verbundenen Kleinfamilie? Schweigend und geduldig stehen sie da – und waren sicher schon unzählige Male Zeugen von knallenden Türen, motzenden Teenagern und vorwurfsvollem Schweigen zwischen Paaren, die sich schon seit Jahren nichts mehr zu sagen haben. Was Familie ist und was sie nicht ist – die Heilige Familie hält ihren Betrachtern den Spiegel vor. Man könnte sie in ihrer Perfektion kaum ertragen, würde nicht der Evangelist Matthäus vom Hadern und Zaudern des Josef berichten. Maria ist schwanger. Josef weiß: von ihm ist das Kind nicht. Was tun? Sein erster Gedanke: Maria verlassen. Weil er sie "nicht in Schande bringen" will, schreibt die Bibel. Aber der Beziehungsabbruch würde sozialen Abstieg und Armut für die Verlassene bedeuten. Zur Ehrenrettung nähme Josef das anscheinend in Kauf. Erst ein Traum, in dem ein Engel durch die Nachricht vom Heiligen Geist das Dilemma auflöst, bringt ihn davon ab. Was für ein menschliches Antlitz bekommt Josef hier. Getrieben, verunsichert – wie wir. Und letztlich voller Gottvertrauen. Wie Sie?
Die Mächtigen, die Himmlischen, die Verwandten, die Ahnungsvollen, die Eigenartigen, die Nahen: Sie alle gehören zur Geschichte vom Kind im Stall. Diese Geschichte ist mehr als schmückendes Beiwerk eines gelungenen Heiligen Abends, irgendwo zwischen Raclette und Bescherung. Sie ist mehr als ein Kulturgut, in das traditionsbewusste Christinnen und Christen einmal im Jahr die Nase stecken. Sie ist mehr als ein antiker Text, der einst für einen unbekannten Theophilus geschrieben wurde. Mit all ihren Personen – herrschsüchtige, unterwürfige, fremde, vertraute, widerspenstige, freundliche – führt sie mitten in Ihr Leben – und darüber hinaus.