Barefoot Sunday Blues

Nach Hause kommen, den Wohnungsschlüssel noch in der Hand und zack, die Schuhe aus, - ah, diese Erleichterung, Luft, Freiheit für die Zehen. Ich lasse alles Drückende hinter mir. Gehe auf leisen Sohlen weiter und bleibe barfuß bis zum Schlafengehen, nein, bis zum Aufwachen am nächsten Morgen - und eigentlich am liebsten die ganze Zeit. Gerade an diesen heißen Tagen. Barfuß-sein ist für mich Wohlfühlen, Sommer-Glück - und auf einer tieferen Ebene noch viel mehr als das: Eine Lebensweise, eine Haltung, auch eine christliche Haltung…

Ich weiß nicht, wie und wo Sie gerade zuhören, liebe Leserinnen und Lesrer, und ob Sie gerade barfuß sind. Vielleicht haben Sie ja Lust, die Schuhe abzustreifen und mit nackten Füßen zuzuhören. Oder Sie stellen sich das einfach vor. Manchmal machen nackte Füße gute Laune. Vielleicht sogar Tanzlaune. Ein bisschen die Zehen bewegen oder wippen. Das geht auch im Sitzen. Zum Beispiel beim Barefoot Sunday Blues - einer Barfuß-Sonntags-Musik.

Barfuß im Talar

Wenn ich als Pfarrerin irgendwo einen Gottesdienst feiere, dann trage ich meinen schwarzen Talar. Vor über 27 Jahren kam ein Schneidermeister namens Albrecht und hat Maß genommen an uns jungen zukünftigen Pfarrerinnen und Pfarrern. Damals haben wir auch so etwas wie eine liturgische Kleiderordnung gelernt. Zum Talar immer nur schwarz-weiß tragen, vor allem schwarz. Und selbstverständlich immer Strümpfe, schwarze Strümpfe zu schwarzen Schuhen. 
Ich halte mich tatsächlich bis heute daran, also, so ziemlich. 

Denn ein paarmal, wenige Male, war ich barfuß im Talar:

Große Hochzeit in Griechenland auf der Peloponnes am Strand. Es ist heiß. Griechische und deutsche Verwandte, Freundinnen und Freunde, jung und alt, feiern hier. Wir erbitten und feiern den Segen für das Brautpaar. Alles ist festlich geschmückt, Klappstühle stehen im Sand, Blumen, ein Altar. Wenige Meter entfernt, in Sichtweite, Strandmenschen in Badehosen und Bikinis. Wir feiern Gottesdienst. Und singen "Nun danket alle Gott". Ein Streichquartett spielt den Kanon von Pachelbel, die Erkennungsmelodie unserer Morgenfeier, und Musik von Johann Sebastian Bach. Meine Füße barfuß im warmen, weichen Sand. Alles gehört zusammen: Das Meer, die alte Musik, der weite Himmel, diese große Liebe und die ganz und gar unterschiedlichen Gäste, mindestens zweisprachig. Zusammensein, zusammen feiern ist ganz einfach. Wie barfuß im Sand.

Und ein paar Jahre später eine andere Hochzeit im Fränkischen in einem Garten. Hochsommer. Und Pandemie. Wir sind vorsichtig. Behutsam. Wie barfuß. Du spürst jeden Stein. Das Leben. Mit allen Gefahren. Den Segen. Wer sich liebt, ist barfuß miteinander unterwegs. Zeigt sich. Offen. Auch verletzlich.

Bei beiden Hochzeiten haben Leute gesagt: Also, ich habe so meine Schwierigkeiten mit der Kirche. Sie ist mir fremd geworden. Ich spür da nix. Alles so streng, steif… Und dann: Eine Pfarrerin ohne Schuhe. Da konnte ich mich viel besser drauf einlassen und hab echt zugehört.

 Liebe Leserinnen und Leser, wenn Barfuß-predigen ein Rezept wäre gegen Kirchenaustritte, dann wären wir fein raus. So ist es aber nicht. Wohlgemerkt, ich habe die Schuhe nicht ausgezogen, um zu provozieren. Es hatte etwas zu tun mit NAHESEIN. Mich näher fühlen - bei den Leuten, bei Braut und Bräutigam, auch näher bei mir und näher bei Gott.

Zieh deine Schuhe aus

Schuhe ausziehen, weil der Boden heilig ist, auf dem du stehst. Das sagt Gott einmal zu Mose in der berühmtesten Barfuß-Geschichte der Bibel. Mose lebt da schon lange im Exil. Fern von der Macht des Pharao in Ägypten. Fern von seiner eigenen Herkunft, seiner Verwandtschaft, seiner Geschichte. Die Vergangenheit hinter sich lassen. Das hat Mose geschafft. Er hat sich eine neue Existenz aufgebaut. Eine Frau gefunden, eine Familie gegründet. Sie sind in Sicherheit. Safe. Sie scheinen fast ein beschauliches Leben zu führen. Schwiegervaters Schafe hütet Mose. Jeden Tag. Alltag, Routine, nichts Besonderes. Bis…

Mose trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! (2. Mose 3, 1b-5)

Alles war wie immer und dann das: Ein Feuer, das nicht zerstört. Was ist das? Dieses Feuer interessiert ihn. Neugierig geht Mose hin. Dahin wo´s heiß wird. Er will näher dran sein. Sehen, vielleicht verstehen. Dann die Gottesstimme. Sie kennt ihn, spricht ihn mit seinem Namen an. Schuhe aus. Genauer gesagt Sandalen. Komm barfuß zu mir. Komm barfuß zum Feuer. Ja, da ist Verletzungsgefahr. Da sind Funken, Glut, Dornen. Und Heiliges Land. Komm barfuß zu mir. Mose tut das. Und dann hört er zu. Barfuß. Auch im Herzen.

Die Gottesstimme sagt: 

Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt. (…) Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Drangsal gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst. (2. Mose 3, 6- 10)

Jetzt geht´s los. Die Mose-Geschichte wird Fahrt aufnehmen. Es geht um die Zukunft. Die eigene. Und die der anderen. Gott hat das Elend angesehen, hört Mose. Das Elend von denen in den kleinen Behausungen, unterernährt, gefoltert, ausgenutzt, immer wieder vergewaltigt, beschämt, ohne Rechte… Es geht um ihre Zukunft. Mose wollte das Feuer sehen und jetzt gilt kein Wegschauen mehr. Nie mehr. Für niemanden. Mach was. Du. Geh. Los. Alles auf Zukunft. Dieser neue Weg fordert Mose gewaltig heraus. Er will sich am liebsten wegducken: Kann ich nicht. Das schaff ich nicht. 

So diskutiert er mit Gott. Gott sagt zu ihm: Ich bin mit dir. Das sind Worte wie ein Amulett. Du trägst sie bei dir, zum Erinnern, nah am Herzen, wie zum Schutz. Gott schenkt sich Mose. Und so geht der schließlich los. Aus seiner Geschichte wird eine Befreiungsgeschichte. Jüdinnen und Juden feiern sie bis heute. Und sie strahlt aus. Schafft Visionen. Über die jüdische und alle Religionen hinweg schenkt der Exodus der ganzen Menschheit Hoffnung. Diese große Freude: Gott wird die Unterdrückten retten und sie durchs Schilfmeer führen. Und sie gehen barfuß durchs Wasser. In ein neues Leben.

 Später werden sie durch den Jordan gehen. Immer weiter auf dem Weg zu dem Land und Leben, das Gott ihnen geben wird. Und auch Josua, der Nachfolger von Mose, wird sich die Schuhe ausziehen. Das sagt ihm ein Engel. Mitten im Krieg.

Und es begab sich, als Josua bei Jericho war, dass er seine Augen aufhob und gewahr wurde, dass ein Mann ihm gegenüberstand und ein bloßes Schwert in seiner Hand hatte. Und Josua ging zu ihm und sprach zu ihm: Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden? Er sprach: Nein, sondern ich bin der Fürst über das Heer des Herrn und bin jetzt gekommen. Da fiel Josua auf sein Angesicht zur Erde nieder, betete an und sprach zu ihm: Was sagt mein Herr seinem Knecht? Und der Fürst über das Heer des HERRN sprach zu Josua: Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst, ist heilig. Und so tat Josua. (Josua 5, 13-15)

Da steht einer mit einem Schwert vor Josua. Bewaffnet. So wie Josua und seine Leute - und die Feinde, die westlichen Völker, Amoriter, Kanaaniter… und wie sie bis zum heutigen Tag alle heißen. Josua kann den Kämpfer, der vor ihm steht, nicht einordnen. Feind oder Freund, fragt er. Weder noch, sagt der. Weil: Engel, von Gott, andere Kategorie. Anderer Blick auf das alles hier. Auf das Heilige Land Erde. Auf der wir alle leben. Da, wo du stehst, egal wo das ist, da ist Heiliges Land. Frag nicht. Zieh deine Schuhe aus. Die Frage nach Feind oder Freund zerstört Leben. Schon immer. Und Frieden funktioniert vielleicht überhaupt nur barfuß….

Barfuß als Haltung

Für mich kommt diese alte Musik aus dem Messias von Händel auch irgendwie barfuß daher. Leicht. Ungeschützt. In Militärstiefeln singt diese Friedensbotin nicht. Wie lieblich, wie schön - diese Füße. Wie staubig und schmutzig, aufgerissen, verwundet…

Ein anderer Friedensbote fällt mir ein: Mahatma Gandhi. Vor etwa 100 Jahren hat er die ganze Welt beeindruckt. "Die Große Seele" haben sie ihn auch genannt. Damals stand Indien unter britischer Kolonial-Herrschaft. Gandhi schafft es, für sein Land die Freiheit zurück zu erkämpfen - ohne Gewalt. Aber auch im freien Indien gehen schreckliche Kämpfe weiter, zwischen den religiösen Gruppen, zwischen Hindus und Muslimen. Und Gandhi setzt sich weiter ein. Ein Leben in Freiheit kann er sich nur in einer gewaltlosen Gesellschaft vorstellen. Frei und gewaltlos - das gehört zusammen. In allen Religionen. Und zwischen den Religionen.

Der Friedensbote Mahatma Gandhi hat sich bewusst für ein Barfuß-Leben entschieden. So war er in seinem Land unterwegs. Im Gespräch mit "Freund und Feind", auf der Suche dieses Schema zu überwinden. In Bangladesh haben sie ihm Dornen, Glassplitter und Kot auf den Weg gestreut. Ghandi ist seinen Weg weiter barfuß gegangen. 

Weder Putin noch Selenskyi und auch nicht Baerbock, Scholz und Macron sind barfuß unterwegs. Die grausame Realität scheint festes Schuhwerk zu verlangen. Wir leben in einem freien und friedlichen Land, das Waffen liefert. Ach, wäre es schön, wenn es bessere Alternativen geben könnte als "Freund oder Feind"? Befreiungsgeschichten sind kompliziert. Und doch: Ohne Visionen wird es nicht gehen.  Ohne die nackten Füße von Ghandi, von Mose und Mirjam, Josua und Jesus. Wer barfuß läuft, spürt mehr. Spürt eigentlich alles. Und ist leise dabei, poltert und trampelt nicht rum. Barfuß sind wir behutsamer, wendig. Langfristig können wir so besser durchs Leben gehen. Es stärkt die Fußmuskulatur. Auch der aufrechte Gang gelingt am besten barfuß.
Und diese Haltung entspricht in allem dem christlichen Glauben, wie ich ihn leben will. 

Dazu, liebe Leserinnen und Leser, erzähle ich Ihnen jetzt noch eine Barfuß-im-Talar-Geschichte (die letzte, versprochen): 

Das war vor etwa 4 Jahren. Ich komme tropfnass im Seniorenheim an. Ich bin mit dem Fahrrad durch den strömenden Regen gefahren. Obenrum bin ich - dank Regenjacke und Regenhose - trocken. Meine Füße allerdings stehen in zwei Pfützen. Und in den Schuhen steht das Wasser. Es hilft nichts: Ich ziehe die Schuhe und die tropfenden Socken aus - und den langen Gottesdienst-Talar an. So komme ich in den Andachtsraum. Ich muss selber lachen - und die alten Leute auch. Eine Dame will mir sofort Wollsocken holen. 

Nein danke, das ist sehr nett. Eigentlich liebe ich es ja, barfuß zu sein. Und dann denke ich, es passt doch: Hier ist Heiliges Land. Ja, da stehe ich im Seniorenheim, barfuß, und habe unerwartet Heiliges Land betreten. Alles, was hier geschieht, Tag für Tag, Pflegen und Sorgen, Weinen und Lachen, Trösten und Zuhören - sind heilige Handlungen. Und Gott sagt: Ich bin da. Hier ist Heiliges Land. 

…legt ab das Kleid und Schuhe…

Wir kommen bei unserer Geburt barfuß auf die Welt. Adam und Eva laufen barfuß durch den Garten Eden. Und - so zeigen es die alten Altäre und Kunstwerke -die Heiligen und die Engel im Himmel - sie sind alle barfuß. Ganz frei. Ganz im Frieden. Ohne Schmerz.

So soll es sein. Im Sterben. Im Auferstehen. Im Ewigen Leben. Ich bitte dich darum, Gott. Für mich, wenn es so weit ist. Und für meine Liebsten, die schon gestorben sind. Und für alle, wenn der Leib zur Ruhe eilt und Kleid und Schuhe ablegt, das Bild der Sterblichkeit… Jede Nacht wenn wir schlafen gehen, tun wir das. Legen uns Gott in die Hände und werden leicht.
Später heißt es in dem Lied: Der Leib eilt nun zur Ruhe, legt ab das Kleid und Schuhe, das Bild der Sterblichkeit; die zieh ich aus, dagegen wird Christus mir anlegen den Rock der Ehr und Herrlichkeit. 

Das Kleid ablegen und die Schuhe…

In Nürnberg auf dem Johannisfriedhof auf einem Grab am unteren Rand liegen seit etwa drei Jahren solche Schuhe. Wie von den Füßen abgestreift. Nicht ordentlich nebeneinander gestellt, eher beiläufig, eben gerade ausgezogen. Ah, endlich…

Diese Schuhe gehören zu Richard Riedel. Wenige Meter vom Friedhof entfernt ist das Orthopädiefachgeschäft Riedel. Der, der hier begraben ist, kannte sich aus mit Schuhen und Füßen. Diese zwei Schuhe sind allerdings aus Bronze. Und quer über das Grab laufen zwei bronzene Fußspuren, barfuß. Der Schritt geht über den Namen des Verstorbenen hinaus. Der zweite Fußabdruck ist nicht mehr ganz erkennbar. So als würde er sich im Gehen schon loslösen - und himmelwärts weiterlaufen.

Christus, der Auferstandene, ist übrigens auf allen Gemälden immer barfuß zu sehen…
Ja, ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Man kann die Schuhe auch anlassen, liebe Leserinnen und Leser, und "im Herzen barfuß sein". So lese ich es in einem Psalmvers:

Wohl denen, deren Stärke in dir gründet, die in ihren Herzen barfuß zu dir unterwegs sind (Psalm 84, 6, nach der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache) 

Barfuß unterwegs zu dir Gott.
Im Sterben, im Leben.
Wohl denen, die so wandeln!

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.05 bis 10.30 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.